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Der letzte Kaiser

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Dekadenz, Stolz, Wehmut: Was erzählt die Nähe zwischen Otto von Habsburg und Joseph Roth über Europa?

Er hätte allen Grund gehabt, sein Leben in Melancholie und Verbitterung zu tauchen. Niemanden hätte es gewundert, wenn er verhärmt in die Vergangenheit geblickt, vergangenem Glanz und vergangenen Reichtümern nachgetrauert und sich geweigert hätte, mit der Gegenwart ins Benehmen zu kommen. Viele der Standesgenossen von Otto von Habsburg haben es so gehalten, haben sich in illustren, halb verschwörerischen, halb lächerlichen Zirkeln zusammengeschlossen und alte, aus der Zeit gefallene Rituale im luftleeren Raum gepflegt.

Otto von Habsburg hat es anders gemacht. Soeben wurde er mit beinahe imperialem Gepränge in Wien beigesetzt - in der Stadt, die wie Österreich insgesamt für die Habsburger lange verbotenes Terrain gewesen war und wo er bis heute, auch in den Medien, konsequent "Otto Habsburg" genannt wird: Adelstitel verboten. Zwar war auch er, der wohl wusste, aus welchem Stall er kam, dem aber aller Standesdünkel ganz abging, stockkonservativ, erzkatholisch und mit dem Wertewandel oft überkreuz; schwule Ehen waren ihm, dem Weltoffenen, schroff zuwider. Und durchaus bewegte er sich, zu Teilen, in Milieus, die von royalistischer Starre und einem düsteren Hang zu monarchischer Folklore geprägt sind. Aber das war nicht der ganze, nicht einmal der halbe Otto von Habsburg. Denn in Wahrheit war er ein unerschütterlicher Optimist, der an das Vermögen der Menschen glaubte, sich eine lebenswerte vorletzte Welt zu schaffen. Er hat, wie Kardinal Reinhard Marx bei einer vorausgegangenen Trauerfeier in München sagte, mit aller Kraft versucht, "die Zeitstunde anzunehmen, in die er gestellt worden ist". Zeitstunde: Otto von Habsburg hat den winzigen Moment, den ein Menschenleben vor der großen Tafel der Ewigkeit ausmacht, gut nutzen können. Er wird als ein Mann, der Frieden stiften half, in die Geschichte eingehen.

Das unterscheidet ihn von einem Landsmann, den Otto von Habsburg persönlich noch kannte: von dem unglücklichen Joseph Roth, 1894 im galizischen Brody geboren und 1938, im Jahr des Erscheinens seines Romans "Die Kapuzinergruft", im Pariser Exil an Trunksucht elendiglich verstorben. Anders als Otto von Habsburg hatte Joseph Roth kein Glück, zu wenige Freunde mit Einfluss und zuviel angeborene, im Leben bleischwer vermehrte Traurigkeit. Und wohl auch keine Idee, die nach vorne hätte weisen können. Wie der Katholik Otto von Habsburg trauerte der galizische Jude Joseph Roth dem kakanischen Reich nach. Anders als Habsburg sah er es kritisch, es trug - davon zeugen seine Romane, allen voran "Radetzkymarsch" - den Keim der Dekadenz, der Katastrophe, des Todes, "der schon seine knochigen Hände über den Kelchen kreuzte, aus denen wir sorglos tranken".

Mit Wehmut und Ironie gleichermaßen hat Roth auf dieses Reich, das 1918 am Ende des Ersten Weltkriegs, der ersten großen Katastrophe Europas, unterging, zurückgeblickt. Anders als Otto von Habsburg empfand er es nicht umstandslos als den Hort übernationalen, ja multikulturellen Friedens, als den es der Thronprätendent wohl bis in seine letzten Stunden gesehen hat. Roth erkannte die Risse, die Verlogenheiten, die am Ende kaum erträgliche Spannung, unter der das Vielvölkerreich stand. Gerade deswegen hat er es besungen und verklärt. Sein letzter noch zu Lebzeiten erschienener Roman, "Die Kapuzinergruft", ist das trunkenste Zeugnis dieser Nostalgie. Die titelgebende Gruft, in der jetzt der Leichnam Ottos seine letzte irdische Stätte gefunden hat, kommt in dem Roman, der auch von der jeunesse dorée der dem Tod geweihten Monarchie handelt, nur ganz am Rande vor. Als der Ort, an den sich der nach dem k.u.k-Ende orientierungslos und dann mittellos gewordene Franz-Ferdinand Trotta aus Sipolje im Kronland Slowenien begibt: "Ich will den Sarg meines Kaisers Franz Joseph besuchen." Ein Halt, der damals schon keiner mehr war.

Jenes Kaisers, der in den Revolutionswirren von 1848 dank des Rücktritts seines Vorgängers zur Kaiserwürde kam. Der vieles Gute, einiges Moderne und manches weniger Gute wirkte. Der eine biblische Zeit von 68 Jahren Kaiser der doppelten Donaumonarchie war, der als erster Regent Gefallen daran fand, sich als Kaiser, Ehemann, Jäger der neuen Medienwelt im Foto zu präsentieren. Und der 1916 mitten im ersten großen Massenschlachten der industriellen Moderne, im Ersten Weltkrieg, starb, dessen Anfang er 1914 mit einer erhabenen, tragisch verfehlten Botschaft "An meine Völker" (man beachte den Plural) viel zu siegesbewusst präludiert hatte. Niemand fand so hinreißende Worte der Ex-post-Verklärung des habsburgischen Modells der Völkervielfalt wie Joseph Roth, den man fast den Erfinder des wehmütigen Habsburg-Mythos nennen kann.

Dieser einzigartige Staat, der mit seinem Prinzip der lockeren Assoziation der Teilstaaten, die Staaten blieben, sehr an die heutige Europäische Union erinnert, war - so Roth - Einheit in Vielfalt. Er ließ allen ihre Besonderheiten, setzte nur das Prinzip des einen Rechts, der Gerechtigkeit, durch. Er schuf mit Wien eine verschmockte, aber überaus zivilisierte, vibrierende und elegant-graziöse Metropole - ohne den Rändern des Reiches, die die Metropole nicht nur materiell nährten, ihre Bedeutung abzusprechen. Roth bringt das auf die wunderbare Formel: "Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie." Eine träge Gewissheit lag über dem Ganzen: "Alle Bahnhöfe der alten österreichisch-ungarischen Monarchie gleichen einander, die kleinen Bahnhöfe in den kleinen Provinzorten. Gelb und winzig, waren sie trägen Katzen ähnlich, die winters im Schnee, sommers in der Sonne lagern, beschützt von dem überlieferten kristallenen Glasdach des Perrons und überwacht von dem schmalen Doppeladler auf gelbem Hintergrund." Dieses Reich war, einer gewissen reformerischen Beweglichkeit zum Trotz, träge, es gehörte zu seinem Mythos, dass man wo auch immer im Reich stets zu Hause war, überall die gleichen Fiaker, die gleichen Bahnhofsrestaurants, die gleichen Cafés mit den gleichen Palmen, Büffets und zur Dicklichkeit neigenden Kassiererinnen fand, jene "biederen Göttinnen des Lasters". Es war ein wunderbares, zumindest gut bewohnbares Reich - gemischt aus Regeln, Herkunft und ein bisschen Fortschritt: ein gemütlicher Weg in eine Moderne, die der Herkunft und ihren vielen Fußkranken nicht "Ade" sagt. Und das sich als Hort gegen den aggressiven Virus des Nationalismus verstand. Die vornationale Idee der Völkerunion war die bessere gewesen.

Dass das zerbrechen konnte, dass das an den fürchterlichen Material- und Menschenschlachten des Ersten Weltkriegs zerschellte - das hat Joseph Roth, der späte monarchistische Legitimist, nicht verwinden können. Otto von Habsburg schickte ihn, kurz vor Hitlers Einmarsch, als politischen Kurier nach Wien. In Paris besuchte von Habsburg den alkoholkranken Absinthtrinker Roth, um ihn im letzten Moment noch vom Trinken abzubringen. Als sein Kaiser befehle er ihm, sofort vom Alkohol zu lassen. "Jawohl, Majestät!" antwortete Roth. Zu spät, wenige Wochen später starb Joseph Roth. Das ist vielleicht das Bemerkenswerteste an Otto von Habsburg: Dass er sich von der Verzweiflung darüber, dass das alte Reich dahin war und mit Hitler eine ungeahnte Barbarei im Anzug war, nie den Atem verschlagen und die Zuversicht rauben ließ. Da erwies sich die Kraft der monarchischen Vision (von der sich zu trennen Otto von Habsburg dann doch den Familientraditionen brechenden Mut hatte). Die Gewissheit, die dem von den Rändern kommenden Joseph Roth abging - von Habsburg, der bis ans Ende seiner Tage etwas Bubenhaft-Selbstgewisses bewahrte, trug sie tief im Herzen. Der Kaiser Ohneland, zeit seines Lebens in dieser Hinsicht ein Unvollendeter, war sich doch gewiss, in welch mächtigen Traditionsströmen er zu schwimmen das Privileg hatte.

Er kämpfte aktiv gegen Hitler, in dem er die Wiederkehr des Bösen sah. Er glaubte vergeblich (und ohne sich des Irrtums später wirklich bewusst zu werden), dass seine Österreicher den "Anschluss" an Deutschland ablehnen würden: Boshaft gab Hitler der Einverleibung Österreichs den Namen "Operation Otto". Der verhinderte Vielvölkerregent verhalf hinter den Kulissen vielen tausend Juden zur Ausreise aus Europa. Und er schmiedete während des Zweiten Weltkrieges - auf Du und Du mit den Mächtigen der westlichen Welt, von Roosevelt bis Churchill - imaginäre Bündnisse gegen das damals so kraftvolle deutsche Neuheidentum. Wie wenige andere sah er in Kommunismus und Nationalsozialismus benachbarte Kräfte des Bösen, der menschlichen Selbstermächtigung, der mangelnden Demut am Werke.

Und mit einer Unerschütterlichkeit, an die kein Wolfgang Schäuble heranreicht, war er bis in seine letzten Tage hinein davon überzeugt, dass die Europäische Union der Königs-, nein der Kaiserweg heraus aus der blutigen Misere des herrischen, zuweilen fortschrittlich daherkommenden Nationalismus sei.

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Wenige Wochen vor seinem Tod hat er, fast schon nicht mehr von dieser Welt, mit spürbarer Freude auf die geflüsterte Nachricht reagiert, dass Kroatien - auch ein kakanisches Kronland - nun der Beitritt zur Europäischen Union versprochen worden sei. Früher einmal hatte er in seiner halb ironischen Art gesagt, wenn alle "seine" Kronländer in der EU seien, könne er beruhigt sterben. Die EU war dem alten und auf wundersame Weise zuversichtlichen Herren ein fröhlicher Wiedergänger der österreichisch-ungarischen Monarchie. Österreich bildete, sagt Joseph Roth, "die einzige Übernation, die in der Welt existiert hat". Die Schlösser, die Caféhäuser, die Kutscher, die Diener, die Gaslampen, die Frösche, Grillen und Sümpfe der östlichen Weiten, die wie geschichtslos locker im Rechtsraum der Monarchie versammelt waren - "all dies", so Roth, "war Heimtat, stärker als nur ein Vaterland, weit und bunt, dennoch vertraut und Heimat: die kaiserliche- und königliche Monarchie". Multikulturell und übernational, ohne den heimatfernen Furor der Heutigen. Die EU ist zumindest auf dem Wege, das Habsburger Reich darin zu beerben. Und Otto von Habsburg, 20 Jahre lang konservativ-revolutionäres Mitglied im Europäischen Parlament, wurde nie müde, genau das herbei zu reden und zu schreiben.

Nun wurde er - 95 Jahren nach dem letzten Kaiserbegräbnis - zur letzten Ruhe getragen. Damals war es ein trüber, kalter, verregneter Novembertag mitten im Ersten Weltkrieg, an dem der weise, aber aus der Zeit gefallene Kaiser Franz Joseph I. nicht ganz unschuldig gewesen war. Das pompöse Begräbnis erschien im späteren Rückblick wie die letzte, schon von der Stimmung des Abschieds imprägnierte Zeremonie des Kaiserreichs. Ganz Monarchisten und gerade deswegen respektlos sagten die Wiener damals: "Gemma Kaiser schaun." Jetzt gingen sie, viel weniger an der Zahl, wieder Kaiser schauen, diesmal bei strahlendem Wetter, in Freizeituniform und ohn' Unterlass fotografierend. Nur noch Folklore, waren Schützenvereine, Orden, Verbindungen, Freizeithusaren und -dragoner aufmarschiert. Unter den Trauergästen, die dem Requiem im Stephansdom folgten, war einiger Adel - und politische Prominenz fast nur aus dem Osten Europas, den einstigen Kronländern, die alle die Erfahrung machten, dass in der Habsburger Monarchie weit besser zu leben war als in allem, was danach kam.

In seiner schönen Homilie würdigte der konservative Kardinal Schönborn den Verstorbenen so schlicht wie wahr als einen, "der aus dem Gestern für das Morgen schöpfte". Und es war fast ein Affront gegen die anwesenden Royalisten, dass er die Mitschuld Kaiser Franz Josephs am Ersten Weltkrieg nannte, der das Urübel des schrecklichen 20. Jahrhunderts wurde. Otto von Habsburg, sagte Schönborn, habe sein Leben lang versucht, "das Unglück des Ersten Weltkriegs wieder gut zu machen". Man kann eine Barbarei nicht wieder gut machen - genau das aber wollte Otto von Habsburg, auf eigensinnige, naive und zuweilen taktisch kluge Weise. Er war zu sehr Christ, um ein Verhängnis als letztes Wort der Geschichte hinzunehmen. Darin war er groß und aus der Zeit gefallen. Das Requiem im Stephansdom zu Wien endete, in Anwesenheit des österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer, mit einer Strophe der alten Kaiserhymne. Und so lauteten die letzten Worte, die vor der Grablegung zu hören waren: "Innig bleibt mit Habsburgs Krone Österreichs Geschick vereint." Der Satz hatte nichts von einer Provokation. Er wirkte wie der lapidare, selbstbewusste Hinweis darauf, dass die Republik Österreich gerade in ihrem antimonarchischen Eifer nach wie vor vom Geist der Habsburger mitgeprägt ist.

"Wohin soll ich jetzt?" Das fragte ratlos und ohne Hoffnung auf eine Antwort Joseph Roths Friedrich von Trotta vor der literarischen Kapuzinergruft. Diese liegt am Neuen Markt, der früher Getreidemarkt hieß und ein Ort der Komödianten und Gaukler gewesen war. Joseph Haydn wohnte am Platz, als er die Melodie der Kaiserhymne schrieb. In der Gruft unter der Kapuzinerkirche ruhen 146 Tote, darunter 12 Kaiser und 17 Kaiserinnen: eine wuchtige Parade familiärer und monarchischer Stärke. Der Gruft fehlt indes ganz die Düsternis, die man mit dem Wort Gruft verbindet. Hell ist es darinnen, und in dem Gepränge der Sarkophage feiern Barock und Biedermeier wahre Feste der Sinneslust. Auf dem Doppelsarg von Maria-Theresia thront - sitzend hingestreckt wie eine Schäferin - die Kaiserin samt Ehemann. Otto von Habsburg ruht nun mit seiner Gemahlin in der letzten Kammer, in der noch Platz war: einem mit weißem Marmor ausgeschlagenen Raum mit Jugendstildekor, schlicht, hell, anmutig. Stolz und Demut geben sich die Hand.

Als während der Trauerkondukts nahe der Albertina ein einsamer Demonstrant die Monarchie schmäht und die umstehenden Freunde der Monarchie recht unflätig und mit jenem spiegelbildlichen Ressentiment zurückschmähen, das in diesen Kreises weit verbreitet ist - da nimmt ein junges Mädchen im Gothic-Look und mit absichtsvoll zerrissenen Netzstrümpfen den Demonstranten an die Hand und sagt ihm beruhigend, er solle das doch lieber lassen, niemand müsse einen Kaiser fürchten und hassen.

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