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Kultur Relativitätstheorie

„Einstein mochte den Begriff ‚Relativität‘ nicht“

Freier Autor
Schrieb mit seiner Weltformel Zeit-und-Raum-Geschichte: Albert Einstein (1879 bis 1955) Schrieb mit seiner Weltformel Zeit-und-Raum-Geschichte: Albert Einstein (1879 bis 1955)
Schrieb mit seiner Weltformel Zeit-und-Raum-Geschichte: Albert Einstein (1879 bis 1955)
Quelle: picture alliance / Keystone
Die Nazis kritisierten seine „jüdische Physik“. Für Hanoch Gutfreund ist es der Mangel an Respekt für Autoritäten, der Einstein so innovativ machte. Ein Interview über Wissenschaft und Religion.

Vom 14. bis zum 17. April veranstalten die Freunde der Hebräischen Universität Jerusalem (HUJ) eine wissenschaftliche Tagung in Berlin. Es geht um den Nutzen der Naturwissenschaften für den Menschen. Im Zentrum der Tagung steht ein Vortrag von Hanoch Gutfreund über Albert Einsteins Weltsicht. Der Professor Emeritus für Theoretische Physik ist Vorsitzender des akademischen Komitees des Albert Einstein Archivs an der HUJ. Am Rande der Tagung stellte er sich unseren Fragen.

Die Welt: Vor hundert Jahren, im März 1916 veröffentlicht Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie.

Hanoch Gutfreund: Nein. Am 25. November 1915. Aber dann setzt er sich hin und schreibt einen längeren Essay, der nicht nur die physikalische, sondern auch die mathematische Ableitung seiner Theorie darlegt. Das Albert-Einstein-Archiv an der Hebrew University besitzt das handschriftliche Manuskript dieses Essays. 46 Seiten in Einsteins Handschrift. Es ist eines von etwa 80.000 Dokumenten aus seinem Nachlass.

Die Welt: Warum befindet sich der Nachlass in Jerusalem und nicht in Princeton, wo Einstein gearbeitet hat?

Gutfreund: Das hat er so gewollt.

Die Welt: Warum? War Einstein Zionist?

Hanoch Gutfreund ist Professor Emeritus für Theoretische Physik an der Hebrew University of Jerusalem (HUJ). Seine Forschung fokussierte sich auf kondensierte Materie, statistische Mechanik und Computer-Neurowissenschaft
Hanoch Gutfreund ist Professor Emeritus für Theoretische Physik an der Hebrew University of Jerusalem (HUJ). Seine Forschung fokussierte sich auf kondensierte Materie, statistische... Mechanik und Computer-Neurowissenschaft
Quelle: picture alliance / AP Photo

Gutfreund: 1919 schließt er sich der zionistischen Bewegung an. Im gleichen Jahr wird er über Nacht weltberühmt, als eine der Vorhersagen seiner Allgemeinen Relativitätstheorie durch astronomische Beobachtungen bestätigt wird. Bis zu seinem Lebensende sympathisiert Einstein mit dem Zionismus und vermacht daher in seinem Testament seinen gesamten Besitz der Hebrew University. Aber dieser Besitz ist rein ideell. Einstein war nicht reich. Im Gegenteil. Nach seinem Tod mussten sogar einige sehr wichtige Dokumente aus dem Nachlass verkauft werden, um bestimmte Unkosten zu decken. Nun sind wir die Wahrer dieses Erbes. Aber das bedeutet für uns, es mit der ganzen Welt zu teilen.

Die Welt: Auch mit Deutschland.

Gutfreund: Ja. Gerade mit Deutschland. Zum Einstein-Jahr 2005 haben wir mit Leihgaben für die große Einstein-Ausstellung Einstein nach Deutschland zurückgebracht. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg wollte Einstein nie wieder deutschen Boden betreten, und als man ihn einlud, der Max-Planck-Gesellschaft beizutreten, also der Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die ihn als Juden ausgeschlossen hatte, hat er das grob abgelehnt. Der deutschen Regierung und den deutschen Kollegen ist klar, dass man Einstein weder als guten Deutschen noch als guten Juden, den alle lieben können, vereinnahmen kann.

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Die Welt: Die Nazis haben Einsteins Theorien als „jüdische Wissenschaft“ verurteilt.

Gutfreund: Nicht nur die Nazis. Prominente deutsche Wissenschaftler, darunter Nobelpreisträger, haben Einsteins „jüdische Physik“ kritisiert. Unter ihnen der große Physiker Philipp Lenard. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass Einstein den Nobelpreis dafür erhielt, eine Theorie für den photoelektrischen Effekt entwickelt zu haben, den Lenard experimentell entdeckt hatte.

Die Welt: Aber wie ist es mit dem „Jüdischen“ bei Einstein? Hat seine Fähigkeit, das Universum in einem völlig neuen Licht zu sehen, etwas damit zu tun?

Gutfreund: Darüber kann man nur spekulieren. Das hat ein prominenter Wissenschaftshistoriker, der Einstein gut kannte, ja auch getan, nämlich Max Jammer in seinem Buch „Einstein and Religion“. Ich persönlich würde Einsteins Innovationskraft weniger seinem Judentum zuschreiben als seinem totalen Mangel an Respekt für Autoritäten. Er hat selbst wiederholt auf diese Charaktereigenschaft hingewiesen.

Ich persönlich würde Einsteins Innovationskraft weniger seinem Judentum zuschreiben als seinem totalen Mangel an Respekt für Autoritäten
Hanoch Gutfreund

Die Welt: Sie haben von Einsteins “Chuzpe” gesprochen.

Gutfreund: Ja, in Verbindung mit dem Jahr 1905, Einsteins „annus mirabilis“. Da ist er 26 Jahre alt und arbeitet als technischer Angestellter dritter Klasse am Patentamt in Bern, weil er keine Anstellung als Hochschullehrer bekommt. Er hat ein kleines Kind auf dem Schoß, seine wissenschaftlichen Arbeiten betreibt er in der knappen Freizeit, und zwar mit Bleistift und Papier und ohne den Apparat einer Universität, ohne Assistenten, Labor und Fachbibliotheken. In diesem einen Jahr veröffentlicht er vier Arbeiten, von denen jede einzelne ein neues Paradigma auf dem jeweiligen Gebiet der Physik begründet und die zusammen alle Probleme, Rätsel und Widersprüche der klassischen Physik auflösen. Und zehn Jahre später, nach vielen Irrwegen, kommt auch noch die Allgemeine Relativitätstheorie.

Mit diesem Video versteht jeder Einsteins Relativitätstheorie

Albert Einsteins Relativitätstheorie ist sicherlich kein leichter Stoff, manche Menschen beschäftigen sich jahrelang damit. Der 18-jährige Ryan Chester stellt die Theorien nun so einfach wie möglich dar.

Quelle: Die Welt

Die Welt: Eigentlich ist die Relativitätstheorie eine Absolutheitstheorie. Raum und Zeit werden relativ, aber die Lichtgeschwindigkeit ist absolut. Ein jüdisches Konzept. Monotheismus. Es werde Licht.

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Gutfreund: Nun, in der Allgemeinen Relativitätstheorie ist auch die Lichtgeschwindigkeit nicht unveränderlich. Aber Sie haben trotzdem nicht Unrecht. Einstein war mit dem Begriff „Relativität“ ja nicht glücklich. Denn die spezielle Relativitätstheorie sagt aus, dass eben nicht alles relativ ist. Nicht die Lichtgeschwindigkeit, vor allem nicht die Gesetze der Physik. Sie gelten überall und jederzeit. Deshalb schlug Einstein vor, nicht von der Relativitätstheorie zu sprechen, sondern vom „Invarianztheorem“. Aber da war es schon zu spät.

Einstein war mit dem Begriff „Relativität“ ja nicht glücklich. Denn die spezielle Relativitätstheorie sagt aus, dass eben nicht alles relativ ist

Die Welt: Die Theorie des Big Bang folgt aus der Relativitätstheorie. Aber es war ein katholischer Priester, der sie zuerst formulierte. Zufall?

Gutfreund: Einstein wollte lange nicht akzeptieren, dass sich das Universum ausdehnt. Er hat ja seine Theorie zu modifizieren versucht, um diese Schlussfolgerung auszuschließen, die übrigens zuerst von einem russischen Juden gezogen wurde, Alexander Friedman. Georges Lemaître, in der Tat ein katholischer Priester, hat wiederum als Erster gefragt: Was passiert, wenn man das expandierende Universum zurückverfolgt? Dann kommt man darauf, dass sich alles in einem einzigen Punkt zusammengeballt haben muss. Dass es einen Anfang gibt. Den Urknall.

Die Welt: Ich will ja wieder auf Religion und Wissenschaft hinaus. Vielleicht kam Lemaître auf diesen Gedanken, weil er so gut zu seiner religiösen Weltsicht passte.

Gutfreund: Vielleicht. Aber wäre Lemaitre Jude gewesen, hätten Sie das Gleiche gesagt. Einstein war Jude, und er wehrte sich gegen die Theorie (lacht).

Die Welt: Wie sah Einstein das Verhältnis von Wissenschaft und Religion?

Einstein hatte Recht - Es gibt Gravitationswellen!

100 Jahre nach Einstein: Das Genie hat die Existenz von Gravitationswellen vorhergesagt. Bis heute konnten Forscher diese große These nicht belegen. Heute feiern sie den Durchbruch.

Quelle: Die Welt

Gutfreund: Es gibt dieses berühmte Einstein-Zitat: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.“ Aber was bedeutet das? Einmal fragte ihn ein New Yorker Rabbi, ober er an Gott glaube. Die Antwort sollte er in fünfzig Worten auf einem Telegrammformular aufschreiben. So viele Worte brauchte Einstein nicht. Er antwortete: „Ich glaube an den Gott Spinozas. Ich glaube nicht an einen Gott, der sich für das interessiert, was die Menschen tun oder lassen.“ Der Gott Baruch de Spinozas ist eigentlich die Natur, ihre Gesetze, ihre Harmonie. Einstein sah eine Evolution der Religion. Zuerst kam die Religion der Angst, um die höheren Mächte zu beschwichtigen. Dann kommt die judäo-christliche Religion der Moral, in deren Zentrum aber immer noch ein anthropomorpher Gott steht. Die dritte Stufe, die Religion Spinozas und Einsteins, nannte er kosmische Religion.

Die Welt: Eine Religion, in der Gott nicht würfelt.

Gutfreund: Der Ausspruch bezieht sich auf die bis heute andauernde Debatte, die Einstein und Niels Bohr anstießen. Es geht um die Auslegung der Quantenphysik. Bohr und die Kopenhagener Schule sehen damit das Prinzip des Determinismus in der Physik aufgehoben. Einstein wollte das Prinzip des Determinismus und der objektiven Realität nicht aufgeben. Übrigens verbindet ihn das wieder mit Spinoza. Denn Spinoza wurde auch deshalb aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgeschlossen, weil er den Determinismus nicht nur auf die physikalische Welt anwandte, sondern auch auf das persönliche Verhalten. Weil er den freien Willen ablehnte. Einstein glaubt also nicht an den Zufall als Grundlage des Universums, daher sein Spruch: Gott würfelt nicht. Und wissen Sie, was Bohr antwortete? „Schreiben Sie Gott nicht vor, was er tun und lassen soll.“

Schreiben Sie Gott nicht vor, was er tun und lassen soll
Niels Bohr, in Reaktion auf Einsteins Spruch "Gott würfelt nicht"

Die Welt: Das klingt gut protestantisch, wie man es von einem Dänen erwarten würde.

Gutfreund: Oder gut jüdisch. Niels Bohr hatte eine jüdische Mutter (lacht).

Die Welt: Einsteins Name ist mit Berlin verbunden, wo er die Allgemeine Relativitätstheorie ausarbeitete. Aber die Theorie, die unser Denken viel mehr beeinflusst hat, kommt aus Wien, nämlich von Sigmund Freud. Dabei hat Freud in fast allem Unrecht, Einstein in fast allem Recht gehabt.

Gutfreund: Nun, Freud mag in vielem Unrecht gehabt haben. Er hat aber, wie Einstein, eine neue Art gelehrt, die Welt zu sehen. Das bleibt. Außerdem stimme ich Ihnen nicht zu, was die Wirkung Einsteins betrifft. Auch wer Einsteins Theorien nicht begreift, wird von ihnen ergriffen. Denken Sie an das Jahr 1919, als die von Einstein vorhergesagte Lichtkrümmung experimentell bestätigt wird. Europa liegt nach dem Weltkrieg in Trümmern. Die Menschen zweifeln an allem, vor allem an sich selbst. Und da passiert etwas, das die Kraft der Wissenschaft und der Vernunft, die Fähigkeiten des menschlichen Geistes bestätigt und darum inmitten der Verzweiflung Hoffnung gibt. Das leisten die Naturwissenschaften bis heute.

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