Mit zunehmendem Interesse für das Wien des Fin de siècle häuft es sich, daß man Musil zu den Vertretern der Wiener
"Moderne“ neben den Dichtern von
"Jung-Wien“ u.a. zählt. Es gibt aber viele Unterschiede zwischen ihm und
"Jung-Wien“ in Hinsicht auf die soziale und kulturelle Lage. Wenn man
"Jung-Wien“ für typisch österreichisch hält, ist dann Musil ein
"österreichischer“ Dichter? Auf diese Frage antwortet H. Broch: Ja, wegen seiner
"Verwachsenheit mit dem österreichischen Ursprung, die sich auch im Thematischen und in der Gestaltenwahl ausdrückt.“ Musils Roman
"Der Mann ohne Eigenschaften“ stellt zwar die Wiener Gesellschaft der Jahrhundertwende dar, aber sein Thema ist nicht speziell österreichisch, sondern hat teil an der im deutschsprachigen Kulturkreis gemeinsamen Gedankentendenz des frühen 20. Jahrhunderts: dem Aufkommen des Irrationalismus. Im ersten Buch des Romans kritisiert Ulrich alle Irrationalisten, die sich zur Opposition gegen Zivilisation, Verstand und Fortschritt bekennen. Man kann also sagen, daß Musils scharfe ideologiekritische Stellung entscheidend anders ist als die der ästhetizistischen, unpolitischen Impressionisten in Wien.
Im zweiten Buch des Romans wird aber Ulrich selbst zum Mystiker. Der Roman gewinnt damit auch den
"gegenrevolutionären“ Charakter, der dem Anruf des Nationalsozialismus entspricht. Um dessen Ursache festzustellen, müssen wir auf den Entstehungspunkt des
"anderen Zustands“, -so heißt das Thema des zweiten Buchs-zurückgehen. Die Konzeption des
"anderen Zustands“ wurde zum erstenmal im Essay
"Ansätze zu neuer Ästhetik“ (1925) ausgesprochen, der von zwei sich gegenüberstehenden Geisteszuständen handelt: Normalzustand und
"anderer Zustand“. Während der Normalzustand als rationale Beziehungsart zur Welt zu bezeichnen ist, kommt der
"andere Zustand“ als die mystische ästhetische Utopie nach der Sprengung des Normalzustands zum Vorschein. Nach Musils Meinung hat die Kunst
"die Aufgabe unaufhörlicher Umformung und Erneuerung des Bildes der Welt…, indem sie durch ihre Erlebnisse die Formel der Erfahrung sprengt.“ In dieser Theorie können wir doch den Einfluß von L. Klages' Buch
"Vom kosmogonischen Eros“ (1922) an den Stellen erkennen, wo Musil die Einmaligkeit und Augenblicklichkeit des anarchischen ästhetischen Erlebnisses betont. Klages' Buch über
"Eros“ schildert fast dieselbe Beziehung wie die zwischen dem Normalzustand und dem
"anderen Zustand“. wenn es die Auferstehung der
"Welt der Bilder“ nach dem Untergang der
"Welt der Tatsachen“ in der Ekstase des
"kosmogonischen Eros“ verkündet.
Im
"Mann ohne Eigenschaften“ wird die Möglichkeit versucht, die ästhetische Utopie des
"anderen Zustands“ auf das Leben zu übertragen. Dieser Versuch wird aber zuletzt von Musil selbst aufgegeben. Das bedeutet für ihn, daß er die von Klages beeinflußt konstruierte Utopie-Illusion endgültig zerstört hat. Aber warum war das möglich? Wir werden hier an den österreichischen Philosophen der Naturwissenschaft E. Mach erinnert, über dessen Werk der junge Musil eine Dissertation geschrieben hatte. Obwohl diese Dissertation die logischen Widersprüche in Machs Lehre bis ins einzelne aufdeckt, richtet sich Musils Kritik nicht gegen deren grundlegende antimetaphysische Tendenz, da er mit Mach den Geist des Positivismus teilt. Im Wien der Jahrhundertwende finden wir viele andere Intellektuelle,
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