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Artikel 57 / 93

Der Maestro und das Taktgefühl

aus DER SPIEGEL 37/1991

Welcome, Sir! Sie werden erwartet, Big Apple ist zur Feier des Tages gerüstet: Ihr Einsatz in Manhattan, Lincoln Center, am kommenden Mittwoch, 8:00 p.m.

Dann gibt Kurt Masur, 64, immer noch und auch weiterhin Gewandhauskapellmeister in Leipzig, mit den Fanfaren von John Adams'' Vier-Minuten-Reißer »Tromba Lontana« seinen Einstand als neuer Music Director des New York Philharmonic Orchestra.

Vor der landesweit übertragenen Opening Night Gala werden rund 900 Gäste auf der Grand Promenade der Avery Fisher Hall dem neuen Chefdirigenten zuprosten; nach Bruckners 7. Sinfonie, dem Filetstück des Debütabends, werden die Herrschaften im klimatisierten Zelt zum Dinner-Dancing das Tanzbein schwingen, und dann dürfte sich alles um den Maestro in King-size drehen. Mit seinen 1,92 Metern steht das imposante Mannsbild, imported from Germany, dann im Mittelpunkt des klassischen Musikbetriebs und auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn - Masur, so scheint es, ist Spitze.

Im Programmheft der Eröffnungssoiree in New York wird immerhin der Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich seinem Landsmann bescheinigen, daß mit ihm, Masur, Staat zu machen ist, und der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf will sogar leibhaftig einfliegen, um dem Importschlager Masur seine Aufwartung zu machen.

Nicht zu glauben - dieser bärige, bärtige Hüne mit dem imposanten Schädel, in Time als »Vetter von Martin Luther«, in Quick als »Doppelgänger von Hemingway«, im SPIEGEL als »Johannes Brahms kurz vor der Rente« beschrieben, wird hofiert wie ein Elder statesman, der Beethoven, Brahms und Bruckner persönlich im Kabinett hatte.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten amtiert Masur schon im Leipziger Gewandhaus, wo er, als Kapellmeister an der Spitze von Deutschlands ältestem bürgerlichen Konzertorchester, immerhin so legendäre Stabführer wie Bruno Walter und Wilhelm Furtwängler als Vorgänger hatte.

Und nun haben ihm die New Yorker auch noch die Leitung von Amerikas ältestem klassischen Klangkörper anvertraut und ihn somit zum Nachfolger Arturo Toscaninis und Leonard Bernsteins ausersehen.

Manhattans Kulturszene war von dem Leipziger Dirigenten so berauscht, daß selbst die New York Times, in klassischen Gefilden sonst eher Hardliner, zum High-Tick abhob: Masur, so sang das Weltblatt, sei offenbar »eine intelligente Mischung aus Furtwängler, Toscanini, Bernstein und Otto von Bismarck«.

Selten so gelacht: Dieser vermeintlich eiserne Kurt, dessen musikalische Potenz nun gleich für den abenteuerlichen Spagat über den Atlantik reichen muß, ist nicht mehr als exzellentes Mittelmaß. Er macht Musik von altem Schrot und Korn. Alles ist gediegen, nichts geht wirklich daneben - es herrscht perfekter Provinzialismus auf allerhöchstem Niveau.

Man hört eigentlich immer, daß Masur mit beiden Beinen auf der Erde steht.

Aber genau so einen Bodenständigen haben sie in New York wohl gebraucht. Die Glamour-Ära des genialischen Traumtänzers Bernstein war längst verblaßt. Bernsteins Nachfolger Pierre Boulez, selbst komponierender Herold der Avantgarde, hatte sich mit seinen unbequemen Programmen an den Betonohren des New Yorker Abonnement-Publikums wund gestoßen.

Der exotisch-schicke Inder Zubin Mehta räumte zwar mit dem ungeliebten Nachlaß seines Vorgängers Boulez auf und holte zuerst auch wieder weltmännisches Flair in das Traditionsensemble. Doch der Maestro der schönen Gesten und der knalligen Effekte wurde rasch amtsmüde und dirigierte dann auch so: Sein philharmonischer Klangkörper schlaffte jämmerlich ab.

Kaum hatte Mehta für das Saisonende 1990/91 seinen Abgang angekündigt, verordneten sich die Philharmoniker eine Radikalkur: Nun verlangte das als Dirigenten-Killer berüchtigte Ensemble einen Chef, der paukt und drillt, die komplette Literatur pflegt, das Publikum becirct, laufend Platten produziert, die Mäzene streichelt und bei all dem noch ein dufter Typ ist. Gesucht wurde die Kreuzung aus Über-Karajan und Hyper-Bernstein.

Bei derlei Erwartungen war es nicht weiter verwunderlich, daß der glanzlose Ingenieurssohn Masur aus dem schlesischen Brieg in New York nicht erste Wahl, sondern ferner laufender Kandidat war: Wie es heißt, auf Position 4 oder 5.

19 Monate hatten sich die philharmonischen Königsmacher weltweit umgehört: nichts. Bernstein, der vielleicht nicht abgeneigt gewesen wäre zu einer Art Comeback, und Sir Colin Davis, der britische Edelmann mit dem Hang zum Schaumschlag, winkten ab. Den Italiener Claudio Abbado, der bereits unterschriftsreife Verträge vorliegen hatte und in Manhattan auch schon auf Wohnungssuche war, zog es dann doch stärker auf Karajans Thron, nachdem Berlins Philharmoniker ihn dafür auserwählt hatten.

So, als ein Top-Mann nach dem andern den Lockrufen aus New York widerstand, fiel im Spiel der Musik-Mächtigen der Jackpot schließlich doch noch an Masur: rund 700 000 Dollar im Jahr bei 18 Wochen Anwesenheitspflicht.

Für diesen stattlichen Preis hatten die New Yorker Philharmoniker allerdings nicht nur den volkseigenen Gewandhauskapellmeister, sondern auch einen historischen Hauptdarsteller auf Europas politischer Bühne eingekauft, einen Mister Eroica.

Masur - das war schließlich der weltweit beklatschte Polit-Musiker hinter dem Eisernen Vorhang, einer, der dem Freiheitsdrang der DDR-Deutschen in einem kühnen Entschluß stattgegeben und dadurch mitgeholfen hatte, einen blutigen Aufstand im moribunden SED-Staat zu verhindern.

Anfang 1990, während der versuchten Neuinszenierung einer demokratischen DDR, kam Masur sogar als künftiger Staatspräsident ins Gerede. Der Dirigent schien auch nicht abgeneigt und gab seinen Verzicht erst bekannt, als sich die Deutschen für die Wiedervereinigung stark machten.

Immerhin: Er hätte seinen Kopf durchaus als Staatsoberhaupt hinhalten können, er war wer - mehr als alle Mutis und Abbados. Als er das Angebot in New York annahm, meldeten New York Times und Washington Post seine Ernennung auf den Titelseiten.

Die Würde dieses Amtes, so kommentierte die Philharmoniker-Bratschistin Dawn Riggs als Vorsitzende des einflußreichen Orchester-Kommitees die Wahl Masurs, habe sich beileibe nicht nur der Dirigent verdient. Bei der Ernennung zum Chef habe sich neben der »musikalischen« vor allem die »untadelige moralische Integrität« des Kandidaten ausgezahlt.

Am 26. April 1972 fährt ein fast neuer, weißer Mercedes auf der Autobahn von Berlin nach Süden, Richtung Leipzig. Am Steuer der im DDR-Verkehr auffälligen Limousine sitzt deren Eigentümer, der damals 44jährige Dirigent Kurt Masur, neben ihm seine (zweite) Frau Irmgard Elsa, 34, geb. Kaul, eine Tänzerin, die er knapp ein Jahr zuvor geheiratet hat. Auf der Rückbank hockt Tochter Carolin, 5.

Masur ist damals gerade auf dem Sprung vom dirigierenden Werktätigen im Arbeiter-und-Bauern-Staat zum Mini-Starlet der internationalen Orchesterszenerie. Seit 1970 steht er an der Spitze des Gewandhausorchesters - eine politisch heikle Position.

Denn 1968, beim Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR und bei der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings, hatte der tschechische Gewandhauschef Vaclav Neumann sein Amt im Staat der Mittäter demonstrativ niedergelegt und daheim die Leitung der Tschechischen Philharmonie übernommen. Die Leipziger dankten Neumann seine politisch eindeutige Geste, indem sie den willfährigen Nachfolger Masur fürs erste schnitten.

Kurz nach 18 Uhr an jenem letzten April-Mittwoch 1972 kommt Masurs Mercedes in einer leichten Rechtskurve von der Fahrbahn ab, rast - schützende Leitplanken fehlen - über den Mittelstreifen auf die Gegenfahrbahn und prallt dort mit voller Wucht gegen einen hellen Trabant, in dem zwei Klempner nach Berlin unterwegs sind:

Frau Masur und der Trabi-Beifahrer Werner Goldstein, 33, sterben sofort beim Aufprall um 18.20 Uhr. Goldsteins Freund und Kollege Hartmut Skärka, 22, der den Trabant gelenkt _(* Bei einer Führung durch das neue ) _(Leipziger Gewandhaus 1981. ) hat, stirbt zwei Stunden nach dem Unfall im Krankenhaus Belzig. Carolin Masur bleibt unverletzt, der Dirigent muß wegen Wirbelsäulen-Prellung und einiger Rippenbrüche kurzzeitig stationär behandelt werden.

Über den Grund des Unfalls kursieren bald zwei Versionen. Laut Volkspolizei und staatlicher Versicherung (Haftpflichtschaden 52/4370/72 bei der Bezirksdirektion Potsdam) ist Masur wohl kurz eingeschlafen, hat dabei etwas zu weit nach rechts gelenkt und dann, in der Schrecksekunde nach dem Erwachen, den Wagen nach links herumgerissen.

Die Staatsanwaltschaft tischt später die Variante auf, Masur sei durch den schleudernden Anhänger eines von ihm überholten Lkw abgedrängt und auf die Gegenspur gezwungen worden. Von dem Lkw fehlt indes jede Spur.

Dokumente und die Tatsache, daß Masurs Haftpflichtversicherung für alle Kosten auch der Hinterbliebenen (einschließlich 20,08 Mark für das Totenhemd des Fahrers Skärka) aufgekommen ist, legen es nahe, fahrlässiges und damit schuldhaftes Verhalten des lenkenden Dirigenten zu vermuten.

Von einem Prozeß wird nichts bekannt. In den Todesanzeigen für die beiden Trabi-Opfer müssen, auf Geheiß staatlicher Stellen, alle Hinweise auf den Unfall unterbleiben.

In dem Betrieb, wo Skärka und Goldstein gearbeitet haben, bleibt das Thema offiziell tabu, im Gewandhaus wird eine Orchesterversammlung unter dem Vorwand abgesagt, Frau Masur habe einen Autounfall verursacht und ihr Mann sei dabei verletzt worden.

Skärkas Eltern und Goldsteins Witwe werden vom Staatsanwalt bedrängt, auf Strafanzeigen zu verzichten. Von Masur selbst hören die Hinterbliebenen nichts: keine Blume, kein Beileid, Grabesstille.

Allerdings: Nachdem sich der Staatsanwalt fürsorglich eingeschaltet hat, wird den Eltern Skärka die Lieferung eines neuen Trabant innerhalb Jahresfrist, also in sensationell kurzer Wartezeit, zugesagt, und ungewöhnlich ist wohl auch, daß Masur seinen Führerschein bereits während seines kurzen Krankenhausaufenthalts zurückbekommt.

Die SED behandelt den Fall als hochnotpeinliche Angelegenheit und will um jeden Preis eine weiße Weste für den befrackten Aufsteiger Masur, diesen Hoffnungsträger der DDR-Kultur.

Mit der Zeit wächst tatsächlich Gras über die Affäre. Masur erweist sich als solider Orchestererzieher und trotzt mit wachsendem Prestige der Partei immer mehr Zugeständnisse ab: Man reist häufiger auch ins westliche, später gar fernöstliche Ausland, internationale Labels machen Plattenproduktionen, sogar Karajan bittet auf seine Salzburger Medienkirmes - Honecker hält große Stücke auf den parteilosen Stabführer und baut ihm das neue Gewandhaus, die jeweils neueste Limousine der S-Klasse besorgt nun schon Schalck-Golodkowski persönlich.

Masur, der »musikalische Sonnenkönig über dem unterworfenen Land« (Die Welt), erstarkt zum Aushänge-Maestro der DDR. Im Herbst 1989 ruft ihn das Volk im einig Vaterland auch noch zur demokratischen Vaterfigur aus und errichtet schon den Sockel, auf den er als womöglich erster Mann des Staates gekürt werden soll.

Aber dann bleibt er doch auf der Erde und bei seinem Leisten: Mit dem Doppelamt in Leipzig und New York macht er indes eine der erfolgreichsten deutschen Interpreten-Karrieren seit Kriegsende, und sicher macht er die deutscheste.

Der Kunst- und mehrfache Nationalpreisträger der DDR, der Träger des Ordens »Banner der Arbeit«, der »Johannes R. Becher Medaille«, des Vaterländischen Verdienstordens in Gold und des »Sterns der Völkerfreundschaft« wird 1990 Burdas Bambi-Preisträger, Ritter der Ehrenlegion und »Europäer des Jahres«.

1991 erhält er den »Preis für politische Kultur der Stadt Herdecke«, den von Daimler-Benz gestifteten »Hanns-Martin-Schleyer-Preis« und demnächst den »Hermann-Voss-Kulturpreis« der Deutschen Orchestervereinigung.

»Ich fühle mich vollinhaltlich als Musiker, als Sendbote des Humanismus, als Sendbote Beethovens«, verkündet der überreich Dekorierte gern mit pathetischem Tremolo, und er »möchte nicht gestört werden, die Botschaft des Humanismus weiterzutragen«.

Der Vertrag zwischen Masur und dem New York Philharmonic ist im April dieses Jahres gerade perfekt und publik, als die ersten Störenfriede für Unruhe sorgen: Journalisten verschiedener ostdeutscher Zeitungen, allen voran der Mitteldeutsche Express, haben gebuddelt und die Masur-Geschichte von 1972 ausgegraben.

Sie fotografieren die Witwe Goldstein auf dem Friedhof, versuchen mit Fotomontagen eine optische Rekonstruktion des Unfalls, sie zeigen die beiden jungen Todesopfer aus dem Trabi. Bei den regenbogenbunten Totenfeiern werden »Die Schatten der Vergangenheit« in fetten Blockbuchstaben beschworen.

Nach 19 Jahren ist die Tat längst verjährt, Masur also, was eine Strafverfolgung anginge, nicht mehr betroffen. Der vollinhaltliche Sendbote des Humanismus könnte reinen Tisch machen. Statt dessen wiegelt und wimmelt er ab.

Vertuscht? Nein, nicht daß er wüßte. Allein die Tatsache, daß das Ganze aufkam, als er gerade für höchste politische Würden im Gespräch war, weise eindeutig auf politische Rache hin. Es habe da offenbar Verleumder gegeben, die die Geschichte der Staatsanwaltschaft gesteckt hätten.

Aber dieser Statsanwalt habe ihn angerufen und beruhigt. »Professor Masur«, so erinnert sich Professor Masur gegenüber Express an dieses Telefonat, »es ist damals alles ordnungsgemäß abgelaufen.«

Ja, wirklich alles? Daß Masur sich keinmal an die Familien der Opfer gewandt hat, weiß er zwischenmenschlich zu begründen: »Man sagte mir, daß beide Familien keinen Kontakt mit einem Menschen wollten, der ihre Söhne umgebracht hätte.«

Gewundert hat sich der Professor angeblich auch nie, daß er ganz ungeschoren davonkam. Vielleicht, das könne ja sein, sei die damalige Entscheidung »juristisch anfechtbar« gewesen. Aber die Strafverfolgungsbehörde des SED-Staates, dem so ungeheuer viel am makellosen Image seines Jung-Stars lag, habe entschieden, »daß ich mit dem Tod meiner Frau so bestraft worden bin, daß man von einer Gefängnisstrafe absehen wollte«.

Wenn diese Version des - privat zweifellos hart getroffenen - Dirigenten stimmt, dann wurde ihm Gnade vor Recht zuteil - und das wohl außerhalb der Legalität.

Denn nach Paragraph 114 Absatz 1 und 3 des Strafgesetzbuches der DDR kann dann von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abgesehen werden, wenn der Fahrlässige einen »nahen Angehörigen«, nicht aber, wenn er auch noch zwei fremde Personen getötet hat. Außerdem liegt die Entscheidung darüber beim Gericht, nicht bei der Staatsanwaltschaft.

Masur schweigt sich nach der Veröffentlichung der Unfall-Geschichte weitgehend aus. Die New Yorker Philharmoniker kündigen eine Erklärung ihres Musikdirektors an, aber diese Erklärung kommt nicht. Das Orchester verlautbart offiziell, man habe von dem für Frau Masur tödlichen Zusammenstoß gewußt und sehe den Fall als ordnungsgemäß erledigt an.

Mit der rechtlichen Ordnung war es in der DDR so eine Sache - vor allem wenn es um Schuld und Sühne ihrer Prominenten ging. Solange der Fall im dunkeln bleibt, muß Masur für sich entscheiden, ob er damals nur mit dem Mercedes aus der sauberen Spur geraten ist.

Jedenfalls ist er ohne erkennbares Ritardando in die höchsten Kreise des internationalen Musikgeschäfts aufgestiegen: ein Maestro mit fragwürdigem Taktgefühl.

Am Mittwoch abend hat er seine Happy Hour. Mäzene, Gönner, Musiker und Politiker werden dem »Unbeugsamen« (FAZ) ihr Cheers zuprosten, und die Bratschistin Dawn Riggs kann endlich hautnah auf den Mann mit der »untadeligen moralischen und musikalischen Integrität« anstoßen. Wie gesagt: Welcome, Sir! o

* Bei einer Führung durch das neue Leipziger Gewandhaus 1981.

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