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STÄDTEBAU / HILLEBRECHT Das Wunder von Hannover

aus DER SPIEGEL 23/1959

Eine seltsame Versammlung tagte in

dem rauchgeschwärzten Gastzimmer der Vorortkneipe. Grundstückseigner und Schrebergartenbesitzer, Bauingenieure, Architekten und städtische Beamte waren zusammengekommen, um ein kommunales Zukunftsthema zu diskutieren: den Wiederaufbau der Stadt Hannover. Das Hauptreferat des Bierkneipentreffens hielt ein gedrungener Mann mit schwerer Hornbrille über rotgeäderten Wangen; seinen Straßenanzug zierte als ungewöhnliches modisches Attribut eine knotenlos gebundene Krawatte.

Vor dem geladenen Publikum entwarf der Herr mit dem unvollendeten Krawattenknoten, der hannoversche Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, die Vision einer Stadt mit einem grandiosen Netz von Schnellstraßen. Doch die Zuhörer, Bürger einer biederen Residenz- und Pensionärsstadt, blickten sich verständnislos an und bedachten den Redner mit ironischen Zwischenrufen. Es war Frühjahr 1949 - zwischen den zerlöcherten Straßen türmten sich über sechs Millionen Kubikmeter Schutt zu bizarren Kulissen. In 88 Angriffen hatten alliierte Bomber weite Bezirke Hannovers in einen Trümmerkarst verwandelt. Über die Straßen rollten antiquierte Vorkriegsautos, zum Teil mit Holzgasmotor, denn das Benzin war noch immer rationiert.

Dennoch beschwor der Stadtbaurat die Versammlungsteilnehmer: »Eines Tages wird es bei uns genauso viele Automobile geben wie in Schweden oder in der Schweiz. Das kann noch fünfzig Jahre dauern, aber wenn es soweit ist, wird Hannover eine einzige Menschenfalle sein. Jetzt haben wir noch die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.« Zuerst mit leiser eindringlicher Stimme, das hannöversche s-t betonend, schließlich mit der Phonstärke eines Volkstribunen beschrieb der Stadtbaurat, wie das Hannover der Zukunft aussehen müsse. Er sprach von kreuzungsfreien »Schnellstraßen«, von riesigen »Verkehrskreiseln«, von »aufgeständerten Hochstraßen« und »Unterpflasterbahnen«.

Wenige Tage später hielt Hillebrecht denselben Vortrag in einem anderen Stadtteil. Er sprach in der Werkshalle der Hanomag, im Luisenhof, in den Hansa-Sälen und in Dutzenden von Destillen, um die Unterstützung der Grundstücksbesitzer und der wählenden Bürger für sein phantastisch anmutendes Bauprojekt zu gewinnen. Mit demselben missionarischen Eifer entrollte er seine Pläne in den Ausschüssen des Rates und im Ratsplenum, wo die Ratsherren nicht weniger skeptisch dreinblickten als das Publikum in den Arbeiter-Vororten, wenn Hillebrecht von »Tangenten« für den Schnellverkehr sprach, von einer »Entflechtung« des Verkehrs und einer »Entmischung« der Bebauung.

Doch heute, knapp zehn Jahre nach der beispiellosen Ein-Mann-Redeschlacht, zu der Hillebrecht auf insgesamt 411 Versammlungen antrat, ist die Vision verwundert bestaunte Wirklichkeit geworden. Heute ist Hannover die einzige Stadt der Bundesrepublik mit einem System von Stadtautobahnen. Und Hillebrecht ist der wohl einzige Bürger Hannovers mit einem internationalen Ruf.

Um die Außenbezirke der Niedersachsenstadt schließt sich ein Ring von autobahnähnlichen, kreuzungsfreien Schnellstraßen, über die der Fern- und Durchgangsverkehr ohne Geschwindigkeitsbegrenzung surrt. Die City umfaßt ein zweiter, engerer Ring aus gleichfalls doppelbahnigen Schnellstraßen von 50 Metern Gesamtbreite, an deren Gelenken mächtige Verkehrskreisel wie Turbinenräder die Automobile in jede gewünschte Richtung wegschaufeln. Und im Westen und Süden der Stadt sind Baukolonnen mit Planierraupen und Betonierungsmaschinen schon an der Arbeit, die ersten aufgeständerten Hochstraßen Deutschlands zu errichten und mithin den Verkehr erstmals in die »zweite Ebene« zu verlegen.

Wenn sie fertig sind, können die Autofahrer aus der Richtung Ruhrgebiet - was kaum in einer anderen deutschen Stadt möglich ist - unbehindert durch Kreuzungen oder Ampeln mit unbeschränkter Geschwindigkeit bis zum Stadtkern preschen; über einen Verkehrskreisel werden sie dann auf den doppelbahnigen Innenstadtring geschleust, auf dem sie ihr Ziel in der City ansteuern.

»Was hier geschehen ist, wirkt wie ein Wunder«, erstaunte sich der Chefreporter der »Welt«, Joachim Besser, nach einer Tour durch Westdeutschlands Metropolen, auf der er erkunden wollte, ob die Städte ihre Chancen beim Wiederaufbau genutzt hätten. Und so ist die einst behäbig-konventionell dahingluckende Provinzstadt zum Wallfahrtsziel von Architekten, Verkehrsingenieuren und ganzen Delegationen in- und ausländischer Städtebauer geworden, die in Augenschein nehmen möchten, was die Berichterstatter zu überschwenglichen Schlagworten anspornte, etwa: »Hannover - Vorbild für Städtebauer« ("Nürnberger Zeitung"). »Modernster Aufbau aller deutschen Städte« ("Die Welt"), »Hannover - Stadt des Wunders« ("Il Giornale di Sicilia") oder gar »Hannover -Stadt des Jahres 2000« ("Momento Sera«, Rom). Eine Delegation schweizerischer Städtebauer und Architekten, die nach Hannover gepilgert war, resümierte: »Hanniover zeigt, was erreicht werden kann, wenn eine im rechten Zeitpunkt getroffene Planung konsequent befolgt wird...«

Der redefertige Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, der das »Wunder von Hannover« vollbrachte, ist begehrter Ratgeber von auswärtigen Stadtbaumeistern, die nun - zehn Jahre nach Hannover - unter dem Druck eines chaotisch anschwellenden Verkehrs gleichfalls bemüht sind, ihre von Kreislaufstörungen befallenen Städte nach Hillebrecht-Rezepturen zu kurieren. Da Hillebrecht Einladungen in der Regel wegen Arbeitsüberlastung absagen muß - »ich möchte nicht ein Karajan des Städtebaus werden« -, ist sein streng funktionell eingerichtetes Büro im hannoverschen Stadtbauamt das Reiseziel von Abordnungen, die ihm Stadtplanungen und Verkehrsanalysen ratsuchend unterbreiten.

So konsultierten beispielsweise die Berliner den Niedersachsen Hillebrecht, als sie ihre Entwürfe für eine Stadtautobahn ausarbeiteten, und erst im vergangenen Monat begab sich eine Delegation der Stadt Karlsruhe nach Hannover, wo Hillebrecht an einem Samstagnachmittag honorarfrei einige Skizzen zu einem Schnellstraßen-System nach hannoverschem Vorbild begutachtete. Vor zwei Wochen beriet der hannoversche Stadtbaurat eine Abordnung der schwedischen Stadt Lund, die wissen wollte, wie sie das Verkehrschaos auf ihren engen Straßen beseitigen könne.

Fester Bestandteil des Besuchsprogramms auswärtiger Kollegen ist eine geführte Tour über Hannovers Schnellstraßen und zu den architektonischen Schwerpunkten der Innenstadt sowie ein kurzes Referat zur Beantwortung der Kernfrage, die das »Wunder von Hannover« zum nachahmbaren Musterbeispiel macht - der Frage nämlich, mit welchen Mitteln und Methoden der Architekt Rudolf Hillebrecht es gegen die Lethargie und den Widerstand der Bürger durchsetzte, daß seine einst utopisch anmutenden Planungen binnen zehn Jahren verwirklicht wurden.

»Ausschlaggebend war für uns, die psychologische Situation in der Zeit kurz nach der Währungsreform«, erläutert Hillebrecht. »Damals, als noch überall Trümmer lagen, waren die Leute noch opferbereit, weil sie empfanden, daß irgend etwas geschehen müsse, um den Wiederaufbau in Gang zu bringen.« Hillebrecht nutzte diese Gefühlslage, um die Unterstützung von Ratsherren und Bürgern für einen Plan zu mobilisieren, den manche deutschen Großstädte noch heute, 1959, nicht haben: einen sogenannten Flächennutzungsplan. Ein solcher Plan ist gewissermaßen die kartographische Marschorder für die organische Neuordnung einer Stadt; er weist aus, wie sich die Stadtplaner die (Neu-)Aufgliederung von Wohn-, Industrie-, Geschäfts- und Erholungsbezirken vorstellen und wie dementsprechend die Verkehrsströme neu gebettet werden müssen.

Bei seinen Bemühungen, den Wiederaufbauplan zu propagieren und durchzusetzen, war Hillebrecht von , vornherein darauf bedacht, sich organisierte Unterstützung zu verschaffen: Deswegen wurde am 27. Januar 1949 im sogenannten Fürstenzimmer des hannoverschen Hauptbahnhofs von 125 gemeinsinnig veranlagten Bürgern die »Aufbaugemeinschaft Hannover e.V.« gegründet. Ihr gehören außer Haus- und Grundbesitzern einflußreiche Personen der hannoverschen Öffentlichkeit, aber auch zahllose Bürger ohne Grundbesitz an.

Initiatoren der Gemeinschaft waren neben Hillebrecht vor allem der Direktor der Stadtschaft - Wohnungskreditanstalt, Friedrich Meier-Greve, der ehemalige Stadtsyndikus Hartwig Grabenhorst, der die Geschäftsführung übernahm, und der Diplom-Kaufmann Friedrich Buhmann, Inhaber einer florierenden Handelsschule ("Lerne Schreibmaschine mit Musik"). Als »Städtebaulichen Berater« verschrieb sich die Gemeinschaft den einstigen Generalplaner von Hamburg, Konstanty Gutschow.

Während Hillebrecht auf den Zusammenkünften der Aufbaugemeinschaft vom Podium herunter seine verwegenen Ideen entwickelte (und temperamentvoll ironische Zwischenrufe beantwortete), saß Gutschow regelmäßig in der ersten Reihe und machte sich Notizen für sein Ko-Referat. Außer Laien meldeten sich bei den Versammlungen immer wieder Architekten zu Wort, die Gutschow beiläufig ermuntert hatte, sich zu stadtplanerischen Details honorarfrei Gedanken zu machen. Was in den Referaten und in der anschließenden Diskussion vorgetragen wurde, faßte Gutschow später in reich illustrierten, auf grauem Nachkriegspapier gedruckten Broschüren zusammen.

Durch Hillebrechts und Gutschows missionarische Tätigkeit kam schließlich Bewegung in den Wiederaufbau der Stadt Hannover, der bis dahin, wie in allen anderen deutschen Städten, stagnierte. Zwar tat sich noch nicht allzuviel auf den Trümmerflächen und den ruinenbestandenen Straßen, doch den eindringlichen Beschwörungen des Aufbauplaners Hillebrecht war insofern ein wesentlicher Erfolg beschieden, als Hannovers Volksvertreter damals schon die gesetzlichen Grundlagen für die spätere Arbeit der Bulldozer und Betonierungsmaschinen legten. Bereits am 7. Dezember 1949 entschloß sich der hannoversche Rat einmütig (mit Ausnahme der beiden kommunistischen Ratsmitglieder), das Bauamt mit dem Entwurf eines Flächennutzungsplans zu beauftragen. Ein Jahr später legte Hillebrecht den Plan vor, den der Rat schon im Mai 1951 billigte.

Obgleich die Einträchtigkeit später während der ersten Bauetappen abbröckelte, durfte Hillebrecht doch in jedem Fall auf die Hilfe zweier kräftiger Bundesgenossen' rechnen, auf den Beistand der SPD-Fraktion im Stadtratsplenum und ihres Oberstadtdirektors Karl Wiechert. Sie sorgten dafür, daß jede Vorlage den Rat mit Mehrheitsbeschluß passierte, auch wenn die Proteste empörter Bürger überstimmt werden mußten.

Die Pläne, die Hillebrecht mit Hilfe seiner Verbündeten durch das Ratsplenum paukte, basierten auf einer ausgefeilten Verkehrsanalyse, die Hannovers ungewöhnliche Lage berücksichtigte: In einem Raum von rund 200 Kilometern Durchmesser ist die Stadt die einzige Halbmillionen-Metropole und überdies Hauptkreuzungspunkt nicht nur wichtiger Eisenbahnlinien, sondern auch bedeutender Fernverkehrsstraßen.

Die Konsequenz aus dieser Drehscheibensituation erläuterte Hillebrecht immer wieder auf seinen Versammlungen: »Hannover ist eine typische Stadt des durchgehenden Fernverkehrs von Hamburg nach Frankfurt für den Nord-Süd-Verkehr und von der Ruhr nach Berlin für den West-Ost-Verkehr.« Der Anteil des Fernverkehrs am innerstädtischen Verkehr sei dementsprechend hoch - rund 15 Prozent, auf einigen Straßen sogar 25 Prozent, wie Hillebrechts Verkehrsexperten an Hand von Verkehrszählungen errechneten (zum Vergleich: in Düsseldorf 16 Prozent, in München 12,5 Prozent, in Frankfurt zehn Prozent, in Hamburg vier Prozent).

Aber nicht nur dieser Faktor erschwerte die Verkehrsplanung. »Als zentrale Stadt in einem so weiten Einzugsgebiet hat Hannover eine erhebliche Anziehungskraft auf das Umland«, dozierte Hillebrecht, »und infolgedessen starken wirtschaftlichen Zielverkehr, also Verkehr, der in Hannover endet.«

Es bedurfte keiner schwierigen Berechnungen, um zu erkennen, daß beide »Verkehrsarten« - Durchgangsverkehr und Zielverkehr - sich über dieselben Verkehrswege in und durch die Stadt bewegten, nämlich über die Bundesstraßen 3, 6, 65 und 217. Und die mittelalterliche sternförmige Struktur der Stadt bewirkte fatalerweise, daß alle diese Straßen - so gut wie alle anderen Wege in Hannover -über einen einzigen zentralen Platz führten, über den Straßenschnittpunkt am Kröpcke, der seinen Namen dem dort angesiedelten renommierten Kaffeehaus verdankt.

Ausgerechnet in diese belebte Kreuzung, über die zwei der wichtigsten Hauptstraßen Hannovers - die Georgstraße und die Karmarschstraße - hinwegführten, mündeten auch die massiven Verkehrsströme Hamburg-Hannover-Frankfurt und Bremen-Hannover-Hildesheim-Harz. Auch wer von der Autobahn Ruhrgebiet-Berlin. durch die Ausfahrt »Hannover-Mitte« nach Süden bog, wurde eine Viertelstunde später unweigerlich in den Kaffeehaus-Kessel geschleust.

Hillebrecht und sein Verkehrsexperte Herbert Hareke erkannten: »Dieser Hexenkessel muß rechtzeitig kaltgestellt werden, ehe er überkocht.« Sowohl der Fernverkehr als auch der innerstädtische Verkehr müßten schon in beträchtlicher Entfernung vom Kröpcke abgefangen werden.

Mit dieser Überlegung suchten die Planer einer Entwicklung vorzubeugen, die heute beispielsweise am Münchner Stachus, wo Stadt- und Durchgangsverkehr gleichzeitig aus allen Himmelsrichtungen aufeinanderprallen, tagtäglich einen städtischen Kreislaufkollaps verursacht. Damals jedenfalls formulierten Hillebrecht und seine Planer einen Katalog einleuchtender Grundsätze, nach denen das städtische Verkehrsnetz neu ausgelegt werden sollte. Sie wären als beispielhafte Lehrsätze auch in anderen deutschen Großstädten gültig:

- Da die Erweiterung der alten Durchfahrtsadern zu teuer kommt, müssen dem Fernverkehr neue Wege gebahnt werden.

- Diese neuen Wege dürfen aber keine Umwege sein, da der Fernfahrer sich sonst auf eigene Faust einen kürzeren Weg quer durch das Gewühl der Innenstadt sucht.

- Die Umgehungsstraßen müssen also möglichst nahe am Stadtkern vorbeiführen und somit auch dem Autofahrer, der zur Stadtmitte will, das Gefühl geben, daß er eigentlich gar keinen Umweg macht. Dennoch sollten sie als kreuzungs- und fußgängerfreie Kraftverkehrsstraßen nicht durch bebautes Gelände verlaufen.

Konsequenterweise bedachte Hillebrecht seine Ringstraßen nie mit der abschreckenden Vokabel »Umgehungsstraßen«, sondern stets nur mit der unverfänglichen Bezeichnung »Tangenten«. Tangenten berühren den Kreis - in diesem Fall den Stadtkern -, aber führen trotzdem an ihm vorbei.

Noch bevor das Jahr 1949 zu Ende ging, eröffnete Hillebrecht in der Kuppelhalle des Neuen Rathauses eine permanente »Wiederaufbau - Ausstellung«. An großflächigen Modellen konnten die Bürger dort das Verkehrsnetz studieren, das der passionierte Autofahrer Hillebrecht der Stadt verordnet hatte und das den Grundriß entscheidend veränderte. Hannovers Straßensystem sollte nicht länger die Form eines Sterns haben; der neue Grundriß konnte eher mit einem Rad verglichen werden:

- Als Radnabe umschließt ein »Innenstadtring« die City,

- den Radkranz bilden die »Tangenten«, die den Fernverkehr, den Zielverkehr und den Diagonalverkehr von Ortsteil zu Ortsteil aufnehmen, und

- als Radspeichen wirken die sogenannten Radialstraßen, die den Innenstadtring mit den Tangenten auf kürzesten Strecken verbinden (siehe Graphik).

Bei dieser Lösung machte Hillebrecht sich den Umstand zunutze, daß Hannover von Grünzügen umgrenzt ist, dem Stadtwald »Eilenriede« (im Osten) und den Niederungen des Leinetals (im Westen); sie haben sich bis weit ins Zentrum behauptet und der niedersächsischen Metropole das Attribut »Großstadt im Grünen« eingetragen.

In der Eilenriede nun setzte Hillebrecht seine Baukolonnen an - womit er sogleich den Zorn der um den ehemals herrlichen Wald besorgten Hannoveraner herausforderte. Es formierte sich sogar eine festgefügte Anti - Hillebrecht - Front, die den vom Krieg arg mitgenommenen Eilenriede-Wald für sonntägliche Promenaden unangetastet erhalten wollte. Doch Hillebrecht, gestärkt durch ein einmütiges Stadtparlament, ließ ungerührt schon im November 1949 die Bulldozer eine breite Schneise durch den gutbürgerlichen Tann fräsenden ersten Abschnitt der Ost-Tangente.

Es entstand eine landschaftlich wie straßenbautechnisch reizvolle Schnellfahrstrecke als Verbindungsglied zu drei Bundesstraßen (Hamburg, Peine - Braunschweig und Hildesheim), auf der die Signale auf »Freie Fahrt« stehen und auf der - mit Ausnahme der noch nicht vierspurig ausgebauten Abschnitte - ohne Geschwindigkeitsbegrenzung gefahren werden kann. Wenige Jahre später schon konnte Hillebrecht bei Eisbein und »Lüttjen Lagen« (Bier und Korn) die Fertigstellung der hannoverschen Süd-Tangente feiern, die auf den Namen »Südschnellweg« getauft wurde.

Damit war der Durchgangsverkehr Hamburg-Frankfurt weitab vom Kröpcke kurzgeschlossen. Verkehrszählungen ergaben, daß die Erwartungen der Stadtplaner sich erfüllten und die Autofahrer tatsächlich über Hillebrechts Tangenten steuern, wenn sie Hannover nur durchfahren wollen. Erläutert Hillebrechts Verkehrsexperte Hareke: »Wir machen ihnen die Tangenten eben schmackhaft; die Leute werden bald nicht anders können, als in die Tangenten einzubiegen.«

Der Trick ist einfach. Die Einfahrten werden so gelegt, daß diese städtischen Schnellstraßen optisch als Fortsetzung der Bundesstraßen erscheinen, über die der Fernverkehr heranrollt. Hareke: »Die Autofahrer merken dann gar nicht, daß sie schon auf der Tangente sind, und haben große Mühe, die Stelle zu finden, wo früher die Bundesstraße in die Stadt abbog.«

Die Zählungen bestätigten, daß beispielsweise von 1747 Kraftfahrzeugen, die während einer bestimmten Zeiteinheit aus Richtung Celle über die Bundesstraße 3 auf Hannover zurollen, genau 1626 - das sind 93 Prozent - am Stadtrand in die Ost-Tangente einbiegen (siehe Graphik Seite 59). Darunter sind viele Fahrzeuge, deren Ziel die Innenstadt ist, denn die Tangentenfahrt bedeutet für sie keinen Zeitverlust, da ja auf diesem Schnellweg-Abschnitt mit unbegrenzter Geschwindigkeit gefahren werden darf. Die Ost-Tangente führt stracks auf einen großen Kreisel, von wo aus die Autofahrer über eine »Radiale« - eine »Radspeiche« - in Richtung Innenstadt biegen können.

Bald nach dem Baubeginn der Ost-Tangente fraßen sich die Bagger und Planierraupen auch durch die Trümmer der Innenstadt. Sie brachen für den Innenstadtring (die »Radnabe") eine breite -Schneise durch Schuttberge und ausgebrannte Fassaden, zertrümmerten aber auch vom Bombenregen verschont gebliebene Wohnblocks ebenso wie provisorisch neuerstandene Geschäftsviertel und bahnten sich an einer Stelle sogar einen Weg über den historischen St.-Nicolai-Friedhof, um Platz zu schaffen für Hillebrechts breite City-Boulevards.

Während in anderen deutschen Großstädten komplizierte Kreuzungen entstanden, die von einem Ampelwald umsäumt sind, bauten die Hannoveraner unbeirrt von aller Kritik ihre ampellosen, riesigen Umfahrungsplätze, die teilweise 100 Meter lang und 70 Meter breit sind.

Obgleich die raumfressenden Kreisel enorme Kosten erfordern (bis zu sieben Millionen Mark je Stück), bestanden die hanhoverschen Städteplaner auf der Einbeziehung derartig aufwendiger Anlagen in ihr Verkehrssystem, nachdem sich aus den Berechnungen ergeben hatte, daß ein Kreisel wesentlich leistungsfähiger als eine Kreuzung ist. »Auf einer Kreuzung kann man nicht so viele Fahrzeuge verkraften wie auf einem Kreisel«, dozierte Harcke, »denn man kann die Linksabbieger nicht ohne Leistungsschwund bedienen. Im Kreisel dagegen halten die Linksabbieger in der ,Tasche', bis die Straße frei ist. Ebenso kann die Straßenbahn auf der Grünfläche warten, um sich zu einem geeigneten Zeitpunkt in den Verkehr einzuschleusen.«

Heute rollen Hannovers Autofahrer, ohne daß sie an diesen Verkehrsknotenpunkten auf Stoppsignale von Ampeln zu achten hätten, um insgesamt rund ein Dutzend Kreisel. Das 1949 geplante Straßennetz ist nahezu vollendet. Von dem 38 Kilometer langen Tangenten - System sind 23 Kilometer bereits befahrbar. Hillebrecht hat einen Abschnitt der nördlich Hannover verlaufenden Autobahn Ruhrgebiet-Berlin als »Nord-Tangente« in seinen Schnellstraßenring einbezogen, und als größeres zusammenhängendes Stück fehlt in diesem Radkranz nur noch die West-Tangente, die dem Leine-Tal folgen soll.

Der den Stadtkern umschließende Innenstadtring (7,4 Kilometer lang), aus dem die verkehrshemmenden Straßenbahnen verbannt wurden, ist bis auf eine Strecke von 1100 Metern bereits dem Verkehr übergeben. Baukosten des gesamten Netzes bis heute: rund 76 Millionen Mark.

»Nirgends sonst sind derart weitgreifende planerische Gedanken Wirklichkeit geworden«, lobte die Fachzeitschrift »Bauen und Wohnen« Hillebrechts Taten. »Dies mag ein Glücksfall sein, wir glauben allerdings eher, daß es das persönliche Verdienst eines energisch vorgehenden Mannes ist, des Spiritus rector der gesamten baulichen Tätigkeit Hannovers der Jahre nach 1945.«

Kurioserweise hatte der gebürtige Hannoveraner Rudolf Heinrich Friedrich Hillebrecht, Jahrgang 1910, sein planerisches Talent in Hannover noch nie demonstriert, als er sich 1947 um den vakanten Posten des Stadtbaurats bewarb. Der Lebenslauf, den Hillebrecht den hannoverschen Behörden unterbreitete, ließ lediglich eine ausgeprägte organisatorische Begabung erkennen.

In Berlin hatte Hillebrecht noch bei dem deutschen Avantgarde-Architekten Walter

Gropius studiert. Ein Gesellenjahr absolvierte er bei einem Privatarchitekten in Hannover, aber schon bei seiner ersten festen Anstellung - als Architekt für den Reichsverband der deutschen Luftfahrtindustrie in Hamburg - mußte er sich mit Aufgaben befassen, die seine Architektenphantasie nicht beanspruchten. Eines Tages nämlich wurde der Reichsverband dem Reichsluftfahrtministerium unterstellt, und Hillebrecht sah sich als Regierungsbauführer mit der Errichtung von Flak-Kasernen in Hamburg-Osdorf befaßt.

Nach seinem zweiten Staatsexamen im Mai 1937 quittierte Hillebrecht den Regierungsdienst und ging zu dem Hamburger Architekten Konstanty Gutschow ins Planungsbüro, demselben Gutschow, dem er zwölf Jahre später in der »Aufbaugemeinschaft Hannover« wieder begegnete. 1939 gewann das Büro Gutschow den Wettbewerb für die Neugestaltung des Elbufers, die eine Reihe von Hochhäusern, darunter einen 250 Meter hohen Wolkenkratzer für die Partei, vorsah. Wenig später hing an Gutschows Bürotür das respektgebietende Schild: »Der Reichsstatthalter in Hamburg - Der Architekt des Elbufers«.

Alsbald avancierte Gutschow zum Generalplaner Hamburgs, in welcher Eigenschaft er zunächst den Bau eines mittleren Hochhauses stillegte, das die Hamburger Hochbahn für ihre Büros in der Nähe des Hauptbahnhofs errichten wollte. Gutschow vertrat schon damals eine Auffassung, die sich Hillebrecht später in Hannover zu eigen machte: daß nämlich derartige »Verkehrserzeuger« nicht mitten in die Innenstadt gehörten.

Aber auch das preisgekrönte Elbufer wurde nie gebaut. Statt dessen beschäftigte sich das private Architektenbüro Gutschow während des Krieges (unter dem Titel »Amt für kriegswichtigen Einsatz") mit der Errichtung von Bunkern für den Luftschutz und mit der Beseitigung von Fliegerschäden. Hillebrecht offenbarte in dieser Zeit erstmals sein Talent als Organisator. Aus dem gesamten Reichsgebiet beschaffte er Baumaterial für Hamburgs Luftschutzbauten, wobei sein besonderes Interesse den Eisenvorräten galt, die an den stillgelegten Brückenbaustellen der Reichsautobahnen lagerten.

Bevor andere Städte auf diese ergiebige Rohstoffquelle aufmerksam geworden waren, hatte Hillebrecht schon Tausende von Tonnen Eisen auf dem Hamburger Heiligengeistfeld zusammengekarrt. Die schweren Luftangriffe im Sommer 1943 überstiegen freilich auch die Möglichkeiten des Amtes Gutschow. Als es bei der Planung der Notstandsmaßnahmen zu Streitigkeiten mit ebenfalls baubeflissenen Parteistellen kam, stellten Gutschow und Hillebrecht ihre Posten zur Verfügung und verzogen sich vorsichtshalber nach Berlin.

Ihre Lage war immerhin so kritisch, daß sie auf Umwegen aus Hamburg herausfahren mußten, weil Hamburgs damaliger Staatssekretär Ahrens Anstalten getroffen hatte, seine flüchtigen Luftschutzbauer abzufangen. In Berlin wurden sie alsbald vom Rüstungsminister Albert Speer, den Hillebrecht noch aus seiner Berliner Studentenzeit kannte, für den »Wiederaufbaustab« angeheuert.

Das Kriegsende erlebte Hillebrecht, der noch im Herbst 1944 einberufen worden war, als amerikanischer PoW. Im November 1945 holten die Engländer den nach Hamburg heimgekehrten Architekten in die Abteilung Bauwirtschaft des (zonalen) Zentralamtes für Wirtschaft in Minden.

Doch schon 1947 dürstete es Hillebrecht - nach neun Jahren vorwiegend organisatorischer Tätigkeit - derart nach der Praxis, daß er sich in seiner Vaterstadt Hannover um den Posten des Stadtbaurats bewarb.

Als er sein neues Amt antrat, boten sich Hannovers Trümmerflächen als gigantisches Experimentierfeld dar - eine Chance, auf die Hillebrecht in der Folgezeit immer wieder beschwörend hinwies. Zuerst aber galt es, die Hindernisse auszuräumen, die sich einer großzügigen, in die Zukunft greifenden Neuplanung entgegenstellten. »Schön ist es, zu träumen, daß aus den Ruinenfeldern eine bessere Stadt erwachsen könnte«, beschrieb der Kölner Stadtplaner Professor Schwarz einmal die damalige Situation. »Aber um eine Stadt zu bauen, muß man über den Baugrund verfügen. Das ist bei uns nicht der Fall. Alle diese Ruinenfelder sind parzelliert. Sie haben zahllose Besitzer ...«

An dem Eigentumsanspruch der Grundbesitzer, die ihre neuen Geschäfts- und Wohnhäuser partout wieder an den alten Fluchtlinien errichten wollten, zerschellten viele der großartigen Aufbaupläne, die Westdeutschlands Städteplaner in den Jahren von 1945 bis 1947 ausarbeiteten. In Stuttgart klagte der städtische Planer Professor Hoss: »Was ist in unserer Zeit gegen die Bodenspekulation getan worden? Nichts. Die Kernprobleme der Bodenfrage sind ungelöst geblieben.«

Ein Illustrationsbeispiel für den Widersinn des in den Jahren nach 1948 hektisch betriebenen Aufbaus, der alle Zukunftsaspekte außer acht ließ, ist die Geschichte der Stuttgarter Döckerblocks. 1949 schrieb die Wohngemeinschaft Bauen und Wohnen, die in einem von Bomben eingeebneten Bezirk der Stuttgarter Weststadt neue Wohnhäuser errichten wollte, einen Wettbewerb aus. Architekt Döcker bekam für die Pläne eines 'modernen Wohnviertels den ersten Preis, doch der Wohngemeinschaft glückte es nicht, sich mit den Grundbesitzern zu einigen.

Nachdem die Gemeinschaft das Bauvorhaben resigniert aufgegeben hatte, arbeitete das Planungsamt der Stadt einen kompromißlerischen Plan aus, der aber wiederum an den Interessen der Grundbesitzer scheiterte. Noch mehrmals mußten sich die Planungsbeamten zu immer weitergehenden Kompromissen bereitfinden, ehe der arg verwässerte Plan viele Jahre später verwirklicht werden konnte.

In Hannover dagegen bezwang der Stadtbaurat Hillebrecht den Parzellengeist der Grundeigentümer mit ciceronianischer Beredsamkeit. Zwar gab ihm das niedersächsische Wiederaufbaugesetz die Möglichkeit zu Enteignungen, doch der Stadtbaurat war von Anfang an bestrebt, seine Pläne möglichst ohne derartige Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, um langwierige Streitereien zu vermeiden. »Es sind in den Vorschriften Rechtsmittel vorgesehen«, erläuterte der hannoversche Oberverwaltungsrat Menzer, »die es den Betroffenen ermöglichen, Entscheidungen über die Art der Bebauung sehr lange zu verzögern. Es können unter Umständen Jahre vergehen, bis rechtlich klar ist, wie ein Gelände bebaut werden soll.«

Hillebrecht appellierte an den Opfersinn der Bürger und berief sich dabei auf Gründe wirtschaftlicher Vernunft, die es selbst profitstrebigen Grundeignern sinnvoll erscheinen ließen, der Stadt einige Quadratmeter ihrer Parzellen abzutreten. Hillebrecht: »Wir haben mit den Leuten geredet. Man kann den Menschen nichts abverlangen, ohne ihnen genau zu sagen, warum.«

Das ging so vor sich, daß Hillebrecht und Gutschow beispielsweise in Dutzenden von Versammlungen vor den verstörten Grundeigentümern einer der Hauptverkehrsadern, der Karmarschstraße, standen und ihnen klarmachten, daß ihre Straße unbedingt von 17 auf 33 Meter verbreitert werden müßte und daß sie den erforderlichen Grund - notabene: den teuersten dieser Stadt, unmittelbar am Kröpcke - Eck - tunlichst kostenlos zur Verfügung stellen sollten, weil die Stadt die hohen Grundstückspreise nicht bezahlen könne.

Oft genug entstand stürmischer Aufruhr, doch Hillebrecht war fest entschlossen, sich nicht zu Kompromissen herbeizulassen: »Bitte sehr, wenn Sie nicht wollen, bauen Sie Ihre Straße meinethalben in den alten Fluchtlinien wieder auf. Aber dann wundern Sie sich auch nicht, wenn in fünf oder zehn Jahren kein Mensch mehr dort einkaufen kann - weil er nämlich mit dem Wagen nicht mehr durchkommt. Was das für den Wert Ihrer Grundstücke bedeutet, brauche ich Ihnen wohl nicht vorzurechnen. Was Sie jetzt freiwillig aufgeben, ist eine Investition für die Zukunft.«

Den letzten Widerstand brach Hillebrecht in der Regel mit massiven Hinweisen auf die Verödung der Städte in den USA. »Dort werden jetzt die großen shopping centres, die großen Kaufhäuser, in den Stadtrandgebieten errichtet wo noch genügend Parkraum zur Verfügung steht«, warnte Hillebrecht die Hannoveraner. »Denn der motorisierte Durchschnittsamerikaner denkt nicht daran, sich mit seinem Wagen zum Einkaufen in das Innenstadt-Gewühl zu stürzen.«

Vor dieser Alternative kapitulierten die Grundbesitzer und überließen der Stadt ohne Entschädigung eine erkleckliche Anzahl von Quadratmetern - für die sie damals 1200 Mark je Quadratmeter hätten fordern können. Das frappierende Ergebnis dieser einmaligen Spenden-Aktion: Insgesamt neun Hektar, fast 15 Prozent des 61 Hektar großen Plangebiets, opferten die Grundbesitzer gewissermaßen als Vorauszahlung an die Verkehrsbedürfnisse der Zukunft.

Die Bedeutung dieser Opfergabe, zu der Hillebrecht die Anlieger der wichtigsten Verkehrsadern überredete, erhellt sich am Kölner Beispiel. In der Domstadt planen die Städtebauer seit 1949 eine Nord-Süd-Straße von 34 Metern Breite und drei Kilometern Länge, um den anschwellenden Verkehr durch die Innenstadt zu schleusen.

Die neue Verkehrsader sollte über Trümmer-Grundstücke mit einem Gesamtwert von 100 Millionen Mark führen; doch nachdem die städtischen Behörden schon Parzellen im Werte von 60 Millionen Mark angekauft hatten, geriet die Aktion ins Stocken. Die Besitzer der restlichen Grundstücke, die nach Übersee ausgewandert waren, gedachten ihren Boden nicht herzugeben. Zur kurzfristigen Verwirklichung ihres Projekts fehlte den Kölnern eine gesetzliche Handhabe, und es fehlte ihnen auch ein Mann wie Hillebrecht, der vorausschauend die erforderlichen Maßnahmen hätte propagieren und durchsetzen können.

Die hannoverschen Städteplaner jedenfalls vermochten alle Widrigkeiten zügig zu überwinden. Berichtete Fritz Eggeling, Städtischer Baurat von Hannover, über die Praktiken der Hillebrecht-Equipe: »Oft wohnten die Grundstückseigentümer im Ausland oder waren noch in Kriegsgefangenschaft oder gar verschollen. Aber auch in solchen Fällen wurden unter Beteiligung aller Dienststellen Wege gefunden, um die Planungsgedanken nicht zu gefährden. So gibt es heute noch vereinzelt grundbuchlich eingetragene private Grundstücke in unseren Stadtkarten, über die schon seit Jahren der Verkehr rollt.«

Aber noch ein weiteres Opfer forderte der Stadtbaurat Hillebrecht von den Besitzern der zerbombten Grundstücke in der hannoverschen City: Während sich allenthalben in den bundesdeutschen Metropolen Hochhäuser emporreckten, verlangte er von den hannoverschen Bürgern, daß sie ihre neuen Häuser in der Innenstadt möglichst noch etwas niedriger als vor dem Kriege bauen sollten. Hillebrecht betrachtete die »Herabzonung« - so lautet der Fachausdruck - als wichtigste Voraussetzung für die strukturelle Neuordnung der Innenstadt.

Wiederum wußte er sein Ansinnen mit lehrreichen Beispielen aus Amerika gegen den Widerstand der Betroffenen durchzusetzen, die ihre neuen Häuser möglichst hoch zu bauen gedachten und nun in der »Herabzonung« eine »kalte Enteignung« erblickten. Sie wähnten sich ohne ersichtlichen Grund

um hohe jährliche Erträge aus der Vermietung von Wohn- und Büroräumen geprellt.

Doch Hillebrecht beharrte unnachgiebig auf dem Standpunkt, daß Hochhäuser mit verschiedenartiger Nutzung - also mit Geschäften, Büros und Wohnungen - als hochgradige Verkehrserzeuger nicht in das Stadtzentrum gehören. Das Verkehrsdilemma, das durch die Ansiedlung von Hochhäusern im Stadtgebiet ausgelöst werde, könne auch nicht durch die Verbreiterung von Straßen behoben werden.

»Daß Hochhäuser nicht in die Innenstadt gehören, kann man doch in Amerika studieren«, beschwor Hillebrecht die widerspenstigen Grundstückbesitzer. Nachdem er von einer Studienreise durch die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, schilderte er ihnen die Entwicklung, die ihnen für den Fall drohte, daß sie dem verderblichen Beispiel anderer westdeutscher Städte nacheiferten. In der New Yorker Innenstadt, so wußte Hillebrecht zu berichten, seien die Bodenwerte in den Jahren von 1939 bis 1952 um 40 Prozent gefallen, weil sich für die Hochhäuser keine Mieter mehr fänden.

»Am Times Square sah ich, daß ganze Etagenwände mit Reklameschildern überdeckt waren. Ich dachte mir: 'Donnerwetter, mußt' dir doch mal ansehen, wie die Büros dahinter aussehen, die müssen ja sehr dunkel sein.'« Aber die Büros waren leer; die Geschäftsleute schreckten davor zurück, sich in einem Haus einzumieten, vor dem ihre Kunden den Wagen nicht parken konnten. »Die Eigentümer wollen wenigstens die Außenflächen nutzen und vermieten sie zur Anbringung von Werbesprüchen an Reklame-Agenturen.« Im höchsten Bauwerk New Yorks, dem Empire State Building, entdeckte Hillebrecht gleichfalls leerstehende Bürotrakte.

Der Stadtbaurat konnte den Hannoveranern mühelos vorrechnen, »daß beispielsweise die Rendite aus Hochhäusern ganz uninteressant ist«. Er brauchte bei seinen Auseinandersetzungen mit den Hochhausanhängern nur auf die abschreckenden Beispiele hinzuweisen - etwa auf die ungünstigen Ertragsrechnungen des berühmten Hochhauses von Le Corbusier in Marseille und (später) auf die zuschußbehafteten Renommier-Hochbauten des Berliner Hansa-Viertels.

So kam es schließlich, daß in der hannoverschen Innenstadt drei- bis vierstöckige Geschäftshäuser entstanden, während sich andere deutsche Städte vergleichbarer Größe - wie Frankfurt, Köln und Düsseldorf - Hochhäuser in die Innenstadtbezirke setzten. (Hillebrecht: »Was der Gerling in Köln für einen Klotz mitten in die Stadt gepflanzt hat, muß man mal mit eigenen Augen gesehen haben!") In den Fällen, in denen auch Hillebrecht die Errichtung eines Hochhauses als vorteilhaft betrachtete - etwa zur Unterbringung einer Firmenverwaltung oder einer Behörde -, wurden die Interessenten an die Peripherie des Stadtkerns verwiesen. Diese Maßnahme sollte gleichzeitig ein anderes wichtiges Vorhaben des Hillebrecht-Teams fördern: die bauliche Auflockerung des Stadtkerns zur weiteren Entlastung des innerstädtischen Verkehrs. Dazu Hillebrecht-Mitarbeiter Stosberg: »Hochhäuser sind nur zu verantworten im Rahmen eines weiträumigen, landschaftlich gestalteten Grünraumes.«

Nicht länger sollten sich die wichtigen Behörden und Geschäfte auf dem engen Raum um Kröpcke konzentrieren, den einst die Stadtwälle begrenzten. Hillebrecht gedachte vielmehr den zu eng gewordenen mittelalterlichen Stadtkern aufzusprengen und als neue vergrößerte Innenstadt das gesamte Gebiet innerhalb des Innenstadtrings auszubauen, dessen Durchmesser 1,7 Kilometer beträgt.

Unter der Verkehrsplaner-Devise »Der Verkehr ist mir der liebste, der gar nicht erst entsteht«, entwarf Hillebrecht seinen Strukturplan für die vergrößerte Innenstadt: »Die erste Planung macht man rein intuitiv, man sagt sich natürlich: 'Je mehr Verkehr ich in die Stadt hereinpumpe, desto mehr muß ich bewältigen.«

Stets aber stießen die Planer auf den Punkt, an dem der betroffene Interessent - etwa eine Behörde - ein Millionen-Projekt nicht auf die Intuition eines Herrn vom städtischen Bauamt zu gründen bereit war und überzeugende Beweise forderte. Beispiel: die städtische Müllabfuhr. Hillebrecht: »Die Mülleute sagten mir, sie müßten im Zentrum sitzen wie die Spinne im Netz, möglichst beim Kröpcke, dann seien die Wege nach allen Seiten kurz. Das hat mir eingeleuchtet. Dann habe ich mir aber gedacht: ,Zum Kuckuck, die müssen den Müll doch auch irgendwo hinbringen. Welche Wege ergeben sich denn da?'«

Hillebrechts Verkehrsexperten berechneten Wegstunden und Benzinverbrauch. An Hand ihrer Zahlenkolonnen vermochten sie zu beweisen, was niemand vermutet hatte, daß es nämlich vorteilhaft ist, wenn sich die Müllabfuhr-Zentrale an der Peripherie befindet. Daraufhin kapitulierten die Erfinder der Zentral-Idee. Hillebrecht: »Wenn wir ihnen das nicht vorgerechnet hätten, säßen sie mit ihren dicken Brummern von Müllautos heute mitten in der Stadt.«

In den Strukturplan hatte Hillebrecht gewisse Schwerpunkte - für die Unterbringung etwa von Gewerbe, Versicherungen und Verwaltungen - eingezeichnet. Nun galt es, die Firmen und Verwaltungen an die vorgeschriebenen Plätze zu bugsieren, und der Stadtbaurat betätigte sich fortan nach der Devise, daß »Stadtplanung zu einem guten Teil in einem ,Makler-Geschäft' besteht, nämlich die richtigen Bauherren auf die richtigen Bauplätze zu bringen«.

Vorsorglich ließ Hillebrecht durch die Stadt Grundstücke an den geplanten Brennpunkten auf Vorrat kaufen, damit sie später wieder an die Bauherren veräußert werden könnten, deren Bauprojekte der im Plan vorgesehenen Gattung entsprachen und die Gewähr dafür boten, daß ihr Bauwerk der Stadt-Silhouette zur Zier gereichen würde. Nicht selten lud der Stadtbaurat kapitalkräftige Bau-Interessenten, etwa die Direktoren von Industrie-Konzernen, zu sich in die Wohnung, um ihnen in zwanglosem Plausch die Bauplätze zu suggerieren, die er für repräsentative Bauten in seinem Stadtplan reserviert hatte.

Beispielsweise plante ein Bauherr, auf einem Grundstück an der Laves-Allee einen fünfgeschossigen Wohnungsbau im Einheitsstil zu errichten, was den Absichten Hillebrechts zuwiderlief, der diesen Teil des südlichen Innenstadtringes mit Verwaltungsbauten zu bestücken gedachte. Überdies hatte Hillebrecht gerade den verkehrsgünstigen Bezirk im Süden der Innenstadt für Hochhäuser vorgesehen.

Drei Jahre lang setzte sich Hillebrecht mit allen psychologischen Raffinessen dafür ein, daß die Laves-Allee - eine augenfällige städtebauliche Achse - nicht gerade durch einen unansehnlichen Wohnblock entstellt würde. »Wir haben so lange gedoktert, bis wir einen Bauherrn fanden, der ein repräsentatives Gebäude plante, für dieses Gebiet Interesse hatte und sonst in der Stadt nicht richtig landen konnte. Dem sagten wir: Wenn du den Grunderwerb schaffst, kannst du deinen Kram machen, wie du willst, du stehst phantastisch im Stadtbild.' Darauf hat dann der Bauherr seinerseits die Makler angesetzt.«

Als Gegenleistung für bevorzugte Placierung erwartet Hillebrecht von allen Bauherren, daß sie »eine Verpflichtung darin sehen, mit ihrem Bau auch einen Beitrag für das Gesamtbild der Stadt zu leisten«. In Vorträgen, in Konferenzen und in privaten Zusammenkünften verweist er nachdrücklich auf die werbende Wirkung, die ein repräsentativer Bau dem Bauherrn verschaffe. Seinem Verhandlungsgeschick und seinem sanften Dirigismus ist es zuzuschreiben, daß sich die großen Firmen, wie die Continental, die Preußag und die Kali-Chemie, mit ihren Großbauten tatsächlich an den Punkten der Stadt ansiedelten, die Hillebrecht für derartige Gebäude eingeplant hat.

In der Fachzeitschrift »Baukunst und Werkform« schilderte Hillebrecht an Hand eines Beispiels, mit welcher Elastizität er stets in seiner »Makler«-Tätigkeit operieren mußte. 1949 hatte er mit der Post vereinbart, daß sie ihr neues Postscheckamt an einen repräsentativen Platz der Stadt, den Aegidientorplatz, stellen würde. Die Post erschien dem Stadtbaurat als besonders geeigneter Bauherr, weil das fragliche Gelände klein parzelliert war und nur eine kapitalkräftige Behörde über die Mittel verfügte, die Grundstücke nach und nach aufzukaufen. 1957 schließlich waren die Bemühungen so weit gediehen, daß die Post einen Architekten-Wettbewerb für den Entwurf des neuen Postscheckamts ausschreiben konnte.

In den unterdes verstrichenen Jahren aber hatte der Postscheckverkehr über alle Erwartungen hinaus zugenommen, und es ergab sich die Notwendigkeit, ein vierzehngeschossiges Hochhaus zu errichten. Hillebrecht: »Da ist bei uns der Groschen gefallen. Wir sagten: 'Um Gottes Willen! Eine solche Verkehrskonzentration ausgerechnet

an einem neuralgischen Punkt! Und ein Hochhaus hart am Rand der Altstadt!'«

In vielen Verhandlungen bewog der Stadtbaurat die verwirrten Postler, auf das mühevoll zusammengekaufte Grundstück wieder zu verzichten und das Postscheckamt nunmehr an einem Punkt nördlich des Bahnhofs zu errichten, wo es den Innenstadtverkehr nicht blockiert. Auf dem freigegebenen Grundstück am Aegidientorplatz dagegen entstand ein nur vierstöckiger Gewerbebau.

Bei der Neuordnung von Wohnbezirken und bei der Anlage von Verkehrseinrichtungen mußte Hillebrecht allerdings ein anderes Verfahren anwenden, um die Parzellierungs-Grenzen überwinden zu können. Schon 1949 sorgten er und die anderen Aufbau-Initiatoren dafür, daß aus der »Aufbaugemeinschaft« auch »Bezirksgemeinschaften«, »Straßenblock-Gemeinschaften« und zweckgebundene »Aufbaugenossenschaften« hervorgingen, in denen sich die von der Neuordnung unmittelbar betroffenen Grundeigentümer zu gemeinsamer Aktion zusammentaten.

Den ersten Versuch, mit Hilfe einer solchen Aufbaugenossenschaft einen Stadtbezirk neu anzulegen, unternahm Hillebrecht im Altstadtviertel an der Kreuzkirche. Auf den Zwerg-Parzellen des Areals (durchschnittliche Grundstücksgröße: 124 Quadratmeter) waren in den vergangenen Jahrhunderten drei- bis viergeschossige Gebäude so dicht aneinandergefügt worden, daß auf manchen Grundstücken nur noch Raum für enge Lichtschächte und Höfe blieb.

Nachdem Hillebrechts Mitarbeiter in ehrenamtlicher Tätigkeit Vorentwürfe für ein neues Kreuzkirchen-Viertel ausgearbeitet und in mühseliger Arbeit die Eigentümer der Zwerg-Grundstücke ermittelt hatten, wurde Anfang 1950 die »Aufbaugenossenschaft Hannover rund um die Kreuzkirche eGmbH« gegründet. Hillebrecht überredete die Grundbesitzer, ihre im Wiederaufbau-Gebiet liegenden Grundstücke mit sämtlichen Belastungen an die Genossenschaft zu übertragen, was eine ganz neue wirtschaftsorganisatorische Methode des Wiederaufbaus ermöglichte:

Die Genossenschaft tilgte die Belastungen der übernommenen Grundstücke und teilte die Parzellen den neuen Plänen entsprechend neu auf. Bald entstanden auf dem zerstörten Gebiet moderne, von Grünanlagen und Hausgärten umgebene zweibis dreigeschossige Wohnzeilen. Ein fünf Stockwerke hoher Mietshausblock schließt die Wohn-Oase, in der es nur Fußwege gibt, wie ein Wall gegen das Getriebe der Innenstadt ab. »Mag die Gesamtplanung einer gewissen Romantik nicht entbehren«, schrieb Dr. Stosberg vom Stadtplanungs- und Vermessungsamt, »so darf man doch ... in der Einfügung (dieses Wohngebiets) in den Gesamtorganismus der Stadt einen besonders wertvollen ersten Beitrag zur Bewältigung des Problems der Neubebauung zerstörter Stadtteile erblicken.«

Denn nach der Fertigstellung des Kreuzkirchen-Viertels wurden die neuen Häuser, mit Bauhypotheken belastet, nach einem vorher festgelegten Schlüssel den früheren Grundstückseigentümern zurückgegeben. War ein Grundbesitzer nicht mehr daran interessiert, das ihm zugewiesene Grundstück plus Hausanteil zu übernehmen, zahlte ihm die Aufbaugenossenschaft eine angemessene Entschädigung.

Nach demselben Schema verfuhr Hillebrecht erfolgreich beim Neuaufbau anderer Stadtbezirke, wobei er sorgsam darauf bedacht war, die hannöverschen Eigenarten zu berücksichtigen - etwa die Biederkeit der Bürger und ihren Hang zum Althergebrachten. »Wenn wir zum Beispiel die Häuser an der Kreuzkirche mit Flachdächern konzipiert hätten, so hätten wir das Projekt wohl nicht durchbekommen. Aber, ob flach oder schräg, ist mir egal - Hauptsache, die Lösung ist in städtebaulichem Sinne gesund.«

Jedesmal, wenn sich die Diskussion der Architekten um derartige Detailfragen

drehte, betonte Hillebrecht, daß er als Stadtbaurat »Dirigent« sein wolle und nicht »Solist«.

So stritt er sich in einem Gespräch mit einem prominenten Kollegen, dem Professor Werner Hebebrand, der gerade vom Privatarchitekten zum Oberbaudirektor der Freien und Hansestadt Hamburg avanciert war und die Auffassung vertrat, daß er in seiner neuen Eigenschaft auch Schulen entwerfen könne. Hillebrecht hielt ihm vor, daß er in der neuen Position nicht einmal die Skizzen für Bedürfnisanstalten entwickeln dürfe.

Als Architekt arbeitete der hannoversche Stadtbaurat nur in eigener Sache. Er entwarf das Eigenheim, das er mit seiner Gattin Ruth (einer ehemaligen Gebrauchsgraphikerin) und seiner 15jährigen Tochter in der Gneiststraße 7 bezog und das sich, laut Hillebrecht, nur durch zwei Besonderheiten auszeichnet: Es ist nicht durch Zäune zum Nachbargrundstück abgegrenzt ("Bei uns gibt es viel zuviel Zäune") und enthält »eine sturmfreie Bude für den Hausherrn«.

Obgleich der städtebauliche »Dirigent« und »Makler« Hillebrecht es beharrlich ablehnt, sich mit architektonischen Einzelheiten zu, befassen ("Ich denke nicht daran, Fenstersprossen zu reglementieren"), wie das seine Kollegen in anderen deutschen Städten tun, so widmet er doch liebevolle Aufmerksamkeit einem städtebaulichen Detail, das nicht unbedingt den persönlichen Einsatz eines Stadtbaurats erfordert: der »Straßenmöblierung«.

Unter diesem Schlagwort, das aus dem englischen Begriff »street furniture« abgeleitet wurde, verstehen die Architekten alle Ausschmückungen des Stadtbildes, von neuen Tiefstrahlern an den Innenkanten der Verkehrskreisel über gläserne Verkehrshäuschen für Polizeibeamte bis zur Ausgestaltung der Lichtreklame und zur Aufstellung von Brunnen und Plastiken. Hillebrecht: »Das ist mein Hobby.«

Eines Tages bot sich den Hannoveranern an der Laves-Allee ein seltsames Bild. An dieser neuen Radialstraße, die Hillebrecht zu einer grünumsäumten Pracht-Avenue ausgebaut hat, waren Arbeiter damit beschäftigt, lange Holzpfähle aufzurichten und sie vor den kritischen Blicken des Stadtbaurats hin und her zu rücken. Die Pfähle sollten die Lichtmasten der künftigen Straßenbeleuchtung darstellen, und Hillebrecht experimentierte mit den Holzstangen stundenlang am Allee-Rand, um sicherzustellen, daß diese Straßenmöbel den Autofahrern nicht den Blick auf die städtische Silhouette versperren.

Schließlich entschloß sich Hillebrecht zu einer ungewöhnlichen Lösung: Er pflanzte die Lampen für die rechte Fahrbahn links auf den Mittelstreifen, so daß nach rechts der Blick auf das Neue Rathaus, auf Markt- und Kreuzkirche tatsächlich unbehindert bleibt (Bild Seite 56). Ebenso sorgte er dafür, daß Straßenbahn und Stadtbeleuchtung überall dieselben Masten benutzen, damit nicht unnötig viele Pfähle und Drähte das Stadtbild verschandeln.

Den gleichen Liebhabereifer verwandte er auf die Anbringung farbiger Richtungsschilder und die Ausgestaltung der Lichtreklamen. Auf sein Betreiben erließ Hannover als erste deutsche Stadt ein Reglement für Außenwerbung, das später vom Deutschen Städtetag als Muster-Verordnung empfohlen wurde. Die Richtlinien schreiben beispielsweise vor, daß (aus Gründen farblicher Harmonie) in manchen Straßen nur weißes und blaues Licht verwendet werden darf, in anderen nur rotes und blaues oder gelbes und grünes.

Mit derartig gedämpften Kombinationen glaubt Hillebrecht dem Charakter der niedersächsischen Stadt gerecht zu werden - auf eine Metropole wie Berlin möchte er sie nicht übertragen wissen, obgleich er die Idee aus der Weltstadt Paris importierte. In Hannover hatte sich Hillebrecht nämlich mit den Herren der Conti-Werke angelegt, die in der Neon-Reklame unbedingt ihre gelb-blaue Firmenfarbe verwenden wollten. Hillebrecht widersetzte sich: »Das paßt doch nicht hierher.«

Als er just zu jener Zeit während,eines Paris-Abstechers über die Champs Elysées schlenderte, erblickte er eine schneeweiße Conti-Reklame. »Ich ging natürlich sofort ins Hôtel de Ville und fragte: 'Zum Kukkuck, wie macht ihr denn das hier?'« So erfuhr er von der Existenz einer Verordnung für Außenreklame, mit der die Pariser Behörden die Komposition der Neon-Lichter bestimmen.

Nach dem Pariser Vorbild erließen dann auch die Hannoveraner ihre Reklame-Regelung, wie Hillebrecht überhaupt auf seinen Reisen Ausschau hält nach vorbildlichen Lösungen, die sich auch in der niedersächsischen Hauptstadt einführen lassen. Von seiner dreimonatigen Reise nach den USA kam er mit einem Koffer voller Pläne und Bilder zurück - und einem Gewichtsverlust von dreißig Pfund, weil er im Lande des Automobils stundenlang zu Fuß gelaufen war, um alles genau zu sehen.

Im August 1955 reiste er auf Einladung der Ostberliner Sowjet-Botschaft auf dreieinhalb Wochen in die Sowjet-Union, um Städtebau und Architektur in Moskau, Leningrad und Kiew zu studieren. »Von Stalingrad habe ich nur die Pläne gesehen, und das hat mir schon gereicht«, berichtete er, »im übrigen habe ich aus meiner Enttäuschung kein Hehl gemacht, daß ausgerechnet das Land der sozialistischen Ordnung so feudalistisch hypertrophiert baut.« Noch zweimal sah Hillebrecht das Chruschtschew-Land: 1957 (auf einer Reise nach China) und im Juli vergaNgenen Jahres. Die Mitglieder seiner »jungen Mannschaft« trieben derweil Studien in Amerika, Schweden, England und in der Türkei.

Mit seinen Reise-Eindrücken konfrontiert Hillebrecht dann nicht selten die Herren vom städtischen Kulturamt, etwa wenn es darum geht, ein paar kahle Stellen des hannoverschen Stadtbildes mit einer Plastik oder einem Brunnen zu möblieren. Er scheut sich in solchen Fällen nicht, in persönlichem Einsatz unter vermögenden Bürgern Mäzene zu werben, die seinen Vorstellungen entsprechend Aufträge an junge Künstler vergeben.

Über das Ergebnis dieser Tätigkeit heißt es in dem Hannover - Dokumentarband »15 Jahre": »Und schließlich sind es Plastiken, die den heiteren Zug in das Gesicht der Stadt zeichnen ... Sie haben nichts mit der langweiligen Würde der ehernen Standbilder von früher gemeinsam, sie stehen nicht einfach nur da, sie gehören dazu und sind-so frei von allem falschen Pathos wie die neue Stadt überhaupt.«

Hillebrechts Hobby hat sich schon so weit herumgesprochen, daß die Hannoveraner dem Stadtbaurat von sich aus Vorschläge einschicken, aber auch persönlich vorstellig werden, um unvorteilhafte Lösungen zu kritisieren.

So erschien im vergangenen Monat ein biederer Schuhmacher in Hillebrechts stadtplangeschmücktem Büro, dessen einziger farblicher Akzent ein abstraktes Nay-Gemälde ist, eine Leihgabe des Schokoladenfabrikanten und Hillebrecht - Freundes Sprengel. Der Handwerker schüttete ungeniert und in ehrbarer Entrüstung einen Stapel Damenschuhe mit abgeknickten Stöckelabsätzen auf den Stadtbauratsschreibtisch: Der Herr Professor möge sich einmal ansehen, wie das rauhe Pflaster des Georgsplatzes die Pfennigabsätze modischer Damenschuhe zurichte. Hillebrecht: »Das werden wir natürlich jetzt, wenn wir den Opernvorplatz neu gestalten, berücksichtigen.«

Um sich allen selbstgestellten Aufgaben,

von der Fertigstellung des letzten Schnellstraßenabschnitts bis zur Auswahl des Pflasters vor dem Opernhaus, widmen zu können, hat sich Hillebrecht einen aufreibenden Termin-Plan aufgebürdet ("Ich schlafe nur noch fünf Stunden"). Selbst zwei schwere Herzanfälle, die Symptome der Managerkrankheit, vermochten seinen Missionarseifer nur vorübergehend zu neutralisieren.

Heute dirigiert der Stadtbaurat mit dem gleichen Elan, mit dem er in der Zeit vor seinem ersten Herzinfarkt (1955) den Ausbau der Innenstadt vorantrieb, die Vorbereitungen für die zweite Bau-Etappe der Verkehrsanlagen. Im Bauamt gesteht man freimütig ein, daß der Verkehr in noch schnellerem Maße zugenommen hat, als man vor einem Jahrzehnt glauben konnte. Deshalb wollen die Hannoveraner früher als geplant auf die städtebaulichen Reserven zurückgreifen, die Hillebrecht von vornherein eingeplant hat, nämlich

- Verlegung bestimmter Verkehrsströme auf aufgeständerte Hochstraßen;

- Verlegung der Straßenbahnlinien im

Innenstadtbezirk unter das Pflaster;

- Erschließung zusätzlicher Parkräume.

Nachdem die ersten aufgeständerten Hochstraßen für den Südschnellweg und für die West-Tangente bereits im Bau sind

- was gerade während der hannoverschen

Messe im vorletzten Monat zu verkehrshindernden Umleitungen zwang -, will Hillebrecht auch einige Kreuzungen in der Innenstadt durch Hochstraßen entlasten. Sein Stab hat schon ein Modell für eine Hochstraße vollendet, die in elegantem Bogen über den innerstädtischen Aegidientor-Platz hinwegführen soll (Bild Seite 65). Verkehrsexperte Harcke: »Ein solcher fly over kann, wenn das architektonisch ordentlich gemacht wird, durchaus sehr elegant aussehen.«

Theoretisch wären die Hannoveraner sogar in der Lage, eine zweite Fahrbahn auf ihren gesamten Innenstadtring aufzustokken, da der vorsorglich eingeplante Mittelstreifen der doppelbahnigen City-Boulevards genug Platz für die Pfeiler einer Hochstraße bietet.

Vorausschauend hat Hillebrecht auch schon vor fünf Jahren die Forderung des einstigen hannoverschen Straßenbahnchefs berücksichtigt, der die verkehrsbehindernden Straßenbahnen im City-Gebiet unter das Pflaster zu verbannen wünschte. Bei Straßenverbreiterungen in der Innenstadt wurde der erforderliche Raum für die Aus- und Einfahrtsrampen einer Unter-Pflasterbahn mit eingeplant. Unter dem Kröpcke sah die Planung schon damals ein zweistöckiges »Unterpflasterkreuz« als zentrale Umsteigestation vor. Hillebrecht: »In spätestens fünf Jahren werden wir damit anfangen.«

Auch die Vorarbeiten für zweigeschossige Tiefgaragen und

für Garagenhäuser mit einer Kapazität von je 400 Wagen sind bereits abgeschlossen. Während sich in vielen anderen deutschen Großstädten die Verkehrsplaner mit einem Wald von Parkverbots- und Halteverbotsschildern vergeblich gegen die anschwellende Autoflut stemmen, hat Hillebrecht nur an wenigen Brennpunkten der Stadt Verbotsschilder aufpflanzen müssen.

Auf den meisten Straßen der Innenstadt ist sowohl das Halten als auch das Parken erlaubt, und im Stadtbauamt denkt man nicht daran, etwa den Erwägungen der Hamburger Stadtplaner zu folgen, die am liebsten das Innenstadtgebiet für Autofahrer gänzlich sperren möchten. Der bis jetzt kläglich gescheiterte Hamburger »park-and-ride«-Plan, die Autofahrer zum Parken in Randgebieten und zum Umsteigen in kleine City-Busse zu bewegen, betrachtet man in Hannover als »Kapitulation« vor den Anforderungen des neuzeitlichen Verkehrs.

Nachdem selbst seine einstmals utopisch anmutenden Voraussagen aus dem Jahre 1949 übertroffen worden-sind, sucht Hillebrecht - längst Professor an der hannoverschen TH - die Entwicklung des Verkehrs im kommenden Jahrzehnt abzuschätzen und rechtzeitig planerische Vorsorge für die dann erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Er ist schon jetzt davon überzeugt, daß Hannover nach weiteren zehn Jahren einen zweiten Tangentenring »ganz weit draußen« benötigt, und er scheint fest entschlossen, auch diesen Plan noch selbst zu verwirklichen: Anfang dieses Jahres hat er erneut das Angebot abgelehnt, beim Essener Ruhr-Siedlungsverband das wohldotierte und weniger aufreibende Amt des Verbandsdirektors zu übernehmen.

Zur gleichen Zeit, da ihm die Aachener Technische Hochschule »in Anerkennung seiner überragenden Verdienste auf dem Gebiet der Stadtbaukunst sowie seiner wissenschaftlichen und praktischen Beiträge zum Städtebau« die Würde eines Dr.-Ing. e. h. verlieh, schrieb Rudolf Hillebrecht den Essenern, er halte es für seine Aufgabe, den Aufbau von Hannover auch künftig zu leiten.

Schon vorher hatte Hillebrecht eine verlockende Offerte des Berliner Senats ausgeschlagen, der den Stadtbaurat von Hannover als Stadtbaudirektor in die ehemalige Reichshauptstadt verpflichten wollte. »Es ist heute so eingerissen, daß man von einer Sache zur anderen springt«, beschied Hillebrecht die Berliner. Er sei dagegen ein Mann des Prinzips. »Was ich einmal angefangen habe, will ich auch zu Ende führen.«

Laves-Allee in Hannover: Stadt des Jahres 2000?

Stadtbaurot Hillebrecht (2. v. r.: Oberstadtdirektor Wiechert): City ohne Hochhäuser

Kreisel am Steintor: Verkehr ohne Ampeln

Hillebrechts Stadtautobahn: Ohne Geschwindigkeitsbegrenzung...

... bis zum Stadtkern: Fußgänger-Passage zur Marktkirche

Hannover 1945: Ober private Grundstücke...

Gutschow

...rollt heute der Verkehr: Georgsplatz

Hillebrechts Eigenheim, Gattin Ruth: Sturmfreie Bude für den Hausherrn

Geplante Hochstraße in der City (Modell): Verkehr in zwei Etagen

Hannovers Kreuzkirchen-Viertel: Wohn-Oase im Großstadt-Verkehr

Café Kröpcke (1910): Die Straßenbahn...

Harcke

...soll unters Pflaster: Verkehrskreisel am Aegidientor

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