Zum Inhalt springen

Kulturgüter in der Ukraine »Retten, was zu retten ist«

Roman Luckscheiter von der Deutschen Unesco-Kommission über bedrohte Kulturgüter in der Ukraine – und die Frage, ob die Ernennung neuer Welterbestätten 2022 wie geplant in Russland stattfinden soll.
Ein Interview von Ulrike Knöfel
Südlich des Stadtzentrums von Kiew liegt ein legendärer Klosterkomplex, der im 17. Jahrhundert den Ehrentitel Lawra erhielt und zu dem auch historische Mönchshöhlen gehören: Blau-weiße Schilder warnen vor der Zerstörung

Südlich des Stadtzentrums von Kiew liegt ein legendärer Klosterkomplex, der im 17. Jahrhundert den Ehrentitel Lawra erhielt und zu dem auch historische Mönchshöhlen gehören: Blau-weiße Schilder warnen vor der Zerstörung

Foto: Iryna Shpulak / alimdi / IMAGO

Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.

SPIEGEL: Herr Luckscheiter, der Exekutivrat der Unesco hat eine zweitägige Sondersitzung abgehalten. Inwiefern war das eine historische Zusammenkunft?

Luckscheiter: Diese Sitzung fand immerhin auf Antrag zahlreicher Mitgliedstaaten statt, um sich mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine zu befassen. Und so wie die Sitzung gelaufen ist, kann man sagen, dass Russland tatsächlich isoliert ist. Diese Sitzung ist ein starkes Signal, die Weltgemeinschaft erhebt ihre Stimme und verurteilt, was in der Ukraine geschieht, und sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu retten, was zu retten ist.

Zur Person: Roman Luckscheiter
Foto: © Deutsche UNESCO-Kommission

Luckscheiter steht seit 2019 der Deutschen Unesco-Kommission als Generalsekretär vor. Zuvor war der promovierte Germanist und Romanist lange für den Deutschen Akademischen Austauschdienst tätig, bis 2018 leitete er die Außenstelle in Kairo.

SPIEGEL: Die Unesco ist als Organisation der Vereinten Nationen zuständig für die Themen Bildung, Wissenschaft, Kultur und Information. Doch möglich sind nur kleinere Maßnahmen. An Journalisten sollen nun Helme und schusssichere Westen geliefert werden. Das klingt eher hilflos.

Luckscheiter: Ich glaube, die ganze Weltgemeinschaft fühlt sich auf der einen Seite hilflos, sie sieht, was passiert und welche roten Linien auch überschritten werden. Und gleichzeitig spüren wir alle, dass in dieser Situation ein großes Gefühl der Solidarität entsteht, aus dem auch die Kraft gewonnen wird für die Zusammenarbeit. Natürlich muss aber mehr geschehen und wird es nach der Sondersitzung auch.

Blick auf Kiew im Jahr 2020, im Zentrum die Sophienkathedrale, ein anerkanntes Weltkulturerbe: »Wir dürfen nicht zulassen, dass das Land und seine Identität nicht mehr mitgedacht werden.«

Blick auf Kiew im Jahr 2020, im Zentrum die Sophienkathedrale, ein anerkanntes Weltkulturerbe: »Wir dürfen nicht zulassen, dass das Land und seine Identität nicht mehr mitgedacht werden.«

Foto:

Artjazz / Shotshop / IMAGO

SPIEGEL: Was zum Beispiel?

Luckscheiter: Wir sehen der katastrophalen Tatsache ins Auge, dass gerade sechs Millionen Schülerinnen und Schüler sowie anderthalb Millionen Studierende ihr Recht auf Bildung in Frieden nicht wahrnehmen können. Im Land sind mehr als 200 Schulen zerstört, viele Kinder auf der Flucht. Die Unesco will diese Katastrophe abmildern und arbeitet dazu eng mit dem ukrainischen Bildungsministerium zusammen. Beispielsweise geht es darum, den digitalen Zugang zu ukrainischen Bildungsmaterialien weiter auszubauen, damit diese auch in den jeweiligen Gastländern zur Verfügung stehen. Die Schülerinnen und Schüler kommen für eine begrenzte Zeit, sie habe eine ukrainische Bildungsbiografie und brauchen auch für ihre Zukunft ukrainische Inhalte und Abschlüsse.

SPIEGEL: Niemand weiß, ob und wann eine Rückkehr möglich sein wird. Müssen Sie nicht also andere Strategien entwickeln?

Luckscheiter: Die Menschen kommen mit dem Gefühl hierher, dass sie jetzt Schutz brauchen, aber sie wollen zurück in ihre Heimat. Das ist ihre Perspektive, und schon angesichts begrenzter Prognosemöglichkeiten dürfen wir die nicht leichtfertig und vorschnell aufgeben. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Land seine vielfältigen Identitäten nicht mehr mitgedacht werden. An dieser Perspektive festzuhalten, ist vielleicht gerade sogar das Allerwichtigste und auch, dass wir entsprechenden Signale an die Menschen aus der Ukraine und in der Ukraine senden. Daran passt die UNESCO ihre Notfallprogramme an, die aber eben erst nach der Sondersitzung und der Resolution aufgelegt werden können.

Aufnahme aus Charkiw: »Wie es genau aussieht oder was geschieht, während wir reden, ist kaum zu sagen.«

Aufnahme aus Charkiw: »Wie es genau aussieht oder was geschieht, während wir reden, ist kaum zu sagen.«

Foto: stock / ITAR-TASS / IMAGO

SPIEGEL: Die Sondersitzung sollte einen Tag dauern, es wurden zwei. Es war überhaupt erst die siebte Sondersitzung seit Gründung der Unesco 1945. Hätte die Unesco in diesem Fall nicht sogar früher tätig werden müssen, direkt nach der russischen Invasion?

»In der Vergangenheit sind wegen der Zerstörung von Kulturgütern auch schon Haftstrafen verhängt worden.«

Luckscheiter: Wir alle waren nicht untätig, haben unsere vielen dezentralen Kontakte genutzt, aber große, von der Weltgemeinschaft getragene Programme können Sie nicht über Nacht auflegen. Wir brauchen ein geordnetes, solides Handeln. Die Verständigung unter den Staaten ist nicht immer einfach, aber wichtig gerade auch für die Zeit nach dem Krieg. Ein Beispiel: Wir müssen Kulturstätten so gut es geht schützen und genauso die Option eines womöglich nötigen Wiederaufbaus vorbereiten.

SPIEGEL: In der Ukraine befinden sich sieben von der Unesco anerkannte Welterbestätten, etliche mehr sind für eine Anerkennung als Kultur- oder Naturerbe vorgeschlagen worden, darüber hinaus gibt es tausende weitere Kulturstätten. Wie viel ist bereits zerstört worden?

Luckscheiter: Wie es genau aussieht oder was geschieht, während wir reden, ist kaum zu sagen.

SPIEGEL: Welche Informationen liefern Satellitenbilder?

Luckscheiter: Diese Bilder werden genutzt, aber wir wissen nicht, wie sich die Gefährdung entwickelt. Jeder hat wohl Aufnahmen aus Charkiw gesehen, diese Stadt besitzt so viele Bibliotheken, Museen, Theater. Wir blicken auch mit Sorge auf das Höhlenkloster Lawra Petschersk und die Sophienkathedrale und in Kiew, das sind zwei Unesco-Weltkulturerbestätten und äußerst bedroht. Die Kathedrale liegt zudem in der Nähe von für Russland wohl relevanten Zielen. Es gäbe viele weitere Beispiele, was wird aus Lwiw? Das historische Zentrum der Stadt ist ebenfalls Welterbe, was wird mit Odessa mit seiner ebenfalls bedeutenden Altstadt? Es liegt ein langes Register von Kulturgütern in der Ukraine vor, die unter den Schutz der Haager Konvention fallen und Zerstörungen werden später auch strafrechtlich verfolgt.

Dreifaltigkeitskloster in Tschernihiw: »Wir wissen nicht, welche rechtlichen und moralischen Verpflichtungen überhaupt noch berücksichtigt werden.«

Dreifaltigkeitskloster in Tschernihiw: »Wir wissen nicht, welche rechtlichen und moralischen Verpflichtungen überhaupt noch berücksichtigt werden.«

Foto: Michael Runkel / imagebroker / IMAGO

SPIEGEL: Mitglieder der russischen Armee könnten dafür am Internationalen Strafgerichtshof für Menschenrechte in Den Haag belangt werden. Aber schreckt sie das ab?

Luckscheiter: Wenn die auch von Russland anerkannte Haager Konvention zum Schutz von Kulturgütern verletzt wird, dann wird das Folgen haben, das können wir sagen. In der Vergangenheit sind wegen der Zerstörung von Kulturgütern auch schon Haftstrafen verhängt worden.

Blau-Weiße Schilder sollen vor der Zerstörung warnen

SPIEGEL: An wichtigen Kulturstätten in der Ukraine werden gerade blau-weiße Schilder angebracht, die sie als schützenswert ausweisen.

Luckscheiter: Es ist ein Versuch. Was es ist im Endeffekt nutzt, wird man sehen. Wir wissen nicht, welche rechtlichen und moralischen Verpflichtungen überhaupt noch berücksichtigt werden. Aber es ist wiederum ein Signal. Es sind zwar nur blau-weiße Schilder, aber sie zeigen an, das Augenmerk der Weltgemeinschaft liegt auf diesen Kulturgütern. Das Signal gilt den Aggressoren, aber ebenso der Bevölkerung, die wissen soll, dass sie nicht allein ist in der Rettung der eigenen Identität. Natürlich geht es jetzt gerade um Menschenleben, aber wir müssen auch an die Zukunft denken. Das Kulturerbe, die gesamte Kultur, ist wichtig für die Resilienz einer Gesellschaft.

SPIEGEL: Jedes Jahr benennt die Unesco neue Welterbestätten – ausgerechnet Russland ist dieses Jahr das gastgebende Land für das Komitee. Bleibt es dabei?

Luckscheiter: Dass Russland das diesjährige Treffen in Kasan ausrichtet, ist 2021 so beschlossen worden. Aber das ist jetzt gar nicht mehr vorstellbar, deshalb gibt es dazu Diskussionen.

SPIEGEL: Sehen Sie Chancen, dass die Unesco mit dem Mitglied Russland je wieder zusammenarbeiten kann?

Luckscheiter: Für uns als Nationalkommission ist die Zusammenarbeit mit Russland auf institutioneller Ebene aktuell gerade quasi unmöglich. Aber wir müssen auch an die Zivilgesellschaft denken, wir dürfen die Kontakte schon deshalb nicht abbrechen lassen. Wegen der Repressionen in Russland flüchten auch von dort Menschen, und auch ihnen müssen wir eine Stimme geben.