Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Eiskreise: Rund, hart, kalt

Foto: rense.com

Mysteriöse Winter-Phänomene Forscher erklären Geheimnis der Eiskreise

Ein winterliches Rätsel erstaunt Wissenschaftler: Auf vielen Gewässern bilden sich kreisrunde Eisschollen, manche sind Tausende Meter groß. Russische Forscher haben jetzt eine erstaunliche Erklärung für die runden Giganten gefunden.

"Sehr mysteriös", notierte ein russischer Naturforscher im 19. Jahrhundert, als er die seltsamen Phänomene auf dem zugefrorenen Baikalsee begutachtete: Meterhohe weiße Schlote aus Eis erheben sich dort im Winter aus dem Gewässer. Wie sie sich bilden, ist bis heute ungeklärt. Immer wieder brechen tiefe Risse in die eisige Seeoberfläche, so als ob Wellen das Eis spalten würden - aber Wasser gelangt nicht nach oben. Die Klüfte schließen sich mit lautem Krachen; es klinge "wie Kanonenfeuer", schrieb ein Eiskundler 1882.

121 Jahre später, im Frühjahr 2003, entdeckten Forscher auf Satellitenbildern ein weiteres Mysterium auf dem zugefrorenen Baikalsee: Kilometerbreite Kreise aus Eis zeichneten sich ab. "Ungewöhnliche Ringstrukturen", staunten Wissenschaftler in Wissenschaftlersprache. Sie sahen sich Satellitenfotos aus anderen Jahren an - auch darauf erkannten sie die Ringe. Das Phänomen trete im Spätwinter auf, berichtet Nikolay Granin vom Limnologischen Institut in Irkutsk. Er glaubt, das Rätsel gelöst zu haben: Gaseruptionen erzeugen die Kreise, meint er.

Anzeige

Axel Bojanowski:
Die Erde hat ein Leck

und andere rätselhafte Phänomene unseres Planeten.

DVA; 192 Seiten; 16,99 Euro.

Bei Amazon bestellen: Axel Bojanowski: Die Erde hat ein Leck Buch bei Thalia: Axel Bojanowski - "Die Erde hat ein Leck" 

Vielerorts haben Eiskreise die Wissenschaft vor Rätsel gestellt. In der Ostsee etwa wurden sogenannte Eis-Pfannkuchen entdeckt. Ihre Entstehung meinen Forscher inzwischen erklären zu können: In unruhigem Wasser bilden sich Pfützen aus Eisschlamm. Weil sie nach allen Seiten gegeneinanderstoßen, formen sich an ihren Rändern runde Eiskrusten. Sie wirken also wie die Salzdekoration am Cocktailglas.

1995 entdeckte der Russe Alexey Yusupov auf dem Fluss Machra, 120 Kilometer nördlich von Moskau, einen imposanten Eiskreis. "Der Kreis hatte eine derart ideale geometrische Form, dass alle Zuschauer wie magnetisiert wurden", erinnert sich Yusupov. Doch schon am nächsten Tag war das Rund verschwunden. "Da eine alte Frau im Dorf zuor einen Kugelblitz gesehen haben will, kursierten die wildesten UFO-Gerüchte", berichtet Yusupov. Auch Naturwissenschaftler hätten das Phänomen nicht deuten können.

Inzwischen gibt es eine Erklärung: Auf manchen Flüssen entstehen im Winter meterbreite Eiskreise, die sich um die eigene Achse drehen. Sie bilden sich offenbar meist in Flusskurven: Die Strömung bricht Eis aus der gefrorenen Wasseroberfläche und lässt es in Strudeln rotieren.

Wilde Spekulationen

Die im Vergleich dazu riesigen Kreise auf dem Baikalsee ließen sich jedoch nicht auf solche Weise erklären. Wie immer, wenn die Wissenschaft nicht weiter weiß, boten sich abwegige Deutungen an: Blieben - wie lange Zeit bei den berühmten Kornkreisen in britischen Kornfeldern - wirklich nur Außerirdische als Verdächtige? Oder sollten Schlittschuhfahrer die rätselhaften Gebilde geformt haben, zirkeln Kufen-Akrobaten die Kreise ins Eis?

Nikolay Granin meint, den Spekulationen jetzt ein Ende bereiten zu können. Nachdem am 4. April letzten Jahres Satellitenbilder einen stattlichen Eiskreis auf dem Baikalsee gezeigt hatten, machte sich Granin mit Kollegen auf, das Phänomen vor Ort zu untersuchen. Drei Tage später stießen die Geoforscher einen Bohrer in den Eiskreis - das Gerät schälte mehrere Eisstangen heraus.

Die erste überraschende Entdeckung war, dass das Eis am Rande des Rings dünner war als im Zentrum. "Mit zunehmender Entfernung vom Mittelpunkt durchzogen immer mehr kleine Risse das Eis", berichtet Granin. Temperatur- und Strömungsmessungen im Wasser unter der gefrorenen Oberfläche brachten einen weiteren wichtigen Hinweis: Strudel unterwandern die Eiskreise.

Am Rand der Kreise erreichen die Wirbel ihre größte Geschwindigkeit. Durch die Turbulenz bildeten sich die dunklen Ringe, folgerte Granin: Das Eis werde am Rand der Kreise schneller zerstört als im Zentrum - Wasser dringe in die Risse, es verdunkle das Eis.

Eine entscheidende Frage blieb aber zunächst offen: Warum gab es solche ominösen Strudel im Baikalsee? Offenbar verursachten mächtige Gaseruptionen am Grund des Sees die Wirbel, meint Granin. Im Boden des Baikalsees wurden Erdgas-Vorkommen entdeckt. Teilweise liegen sie eingeschlossen in Eisklumpen. Zudem brodelten im Seegrund sogenannte Schlammvulkane, die neben Schlick auch Gas hervorstießen.

Strudel als Ursache?

Granin und seine Kollegen bezeugten in den vergangenen Jahren zehn gewaltige Gaseruptionen im Baikalsee. Mit Schallwellen entdeckten sie Gasfahnen, die vom Grund aus bis zu 900 Meter aufragten. An manchen dieser Stellen hätten sich im Winter Eiskreise auf dem zugefrorenen See gebildet, berichtet Granin.

Die Theorie der russischen Wissenschaftler erscheine plausibel, bestätigt die Umweltforscherin Marianne Moore vom Wellesley College im US-Bundesstaat Massachusetts: Das Erdgas schieße vermutlich mit warmem Wasser aus dem Boden und werde beim Aufstieg in Drehung versetzt - ganz ähnlich wie bei einem Tornado. Die Wirbel erzeugten schließlich die Eiskreise.

Die Erforschung des Naturphänomens hat nun ernste Konsequenzen für die Schifffahrt auf dem Baikalsee. Die russische Regierung warnte Kapitäne vor den Orten, an denen sich Eiskreise gebildet hatten. An diesen Stellen gebe es die Gefahr, dass Erdgas-Wolken sich entflammten, wenn sie mit offenem Feuer - etwa an Bord eines Schiffes - in Berührung kämen.

Nikolai Granin und seine Kollegen warten gespannt auf neue Satellitenfotos. In den kommenden Wochen werden sich vermutlich wieder Eiskreise auf dem Baikalsee bilden. "Doch die Ringe", sagt Granin, "waren keineswegs das letzte Rätsel des Sees". Und so werden die Forscher wieder hinfahren, um auch die anderen winterlichen Mysterien der Gegend zu entschlüsseln. Die Herausforderung sei groß, betont Granin. Schließlich stelle das Eis des Baikals Wissenschaftler seit Jahrhunderten vor Rätsel.