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PFERDE / RIBOT Hengst mit fünf Gängen

aus DER SPIEGEL 5/1957

In der Jahresversammlung der englischen Vollblut-Züchter zog die Elite der Herren mit grauem Zylinder kürzlich eine triste Bilanz. Die Aristokraten des Turfs zeigten sich ernstlich beunruhigt über die dürftigen Leistungen des Nachwuchses aus britischen und irischen Vollblut-Zuchten, die seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts in der ganzen Welt als vorbildlich gegolten hatten.

Lord Derby, ein Nachfahre jenes Grafen Derby, der 1780 in Epsom das erste Galopp-Rennen der Dreijährigen veranstaltet hatte, hielt den Pferde-Züchtern eine patriotische Rede. Der Lord monierte, daß die wichtigsten Preise der Saison nicht wie früher nach England, sondern nach Frankreich und Italien gegangen waren. Die Ursache dieses nationalen Mißstandes sah Englands Pferdementor in dem Umstand, daß die Züchter neuerdings dazu neigen, sich zu wenig um die Verbesserung der eigenen Zucht zu kümmern.

Um seinen Fachkollegen mit gutem Beispiel voranzugehen, entschloß sich der Pferdelord zu einem Experiment, von dem er sich mirakulöse Ergebnisse erhofft. Für die höchste bisher im Rennsport gezahlte Deck-Taxe von 1200 Pfund (über 14000 Mark) je Sprung sicherte er seinem Gestüt ein Jahr lang die kostbaren Paschadienste eines Hengstes, der einem Fabelwesen aus mythischen Vorzeiten des Pferdegeschlechts weit ähnlicher sieht als einem Beschäler-Modell.

Das aus Italien stammende Pferd hört auf den Namen des heute fast vergessenen französischen Malers Théodule-Augustin Ribot (1823-1891). Der italienische Züchter Federico Tesio, aus dessen Gestüt der Hengst Ribot kommt, pflegte seinen Pferdenachwuchs auf die Namen berühmter Maler und Bildhauer - wie Michelangelo, Botticelli, Toulouse-Lautrec - zu taufen.

Seines stoischen Charakters wegen nannte ein englischer Journalist den Hengst mit dem Künstlernamen Ribot kürzlich scherzhaft »das ideale Reitpferd für einen berittenen Polizisten«. Lord Derby hat jedoch nicht die Absicht, mit Hilfe des Hengstes Ribot auf seinem berühmten Gestüt Newmarket Polizeipferde zu züchten. Trotz seiner Bierruhe ist der in sechzehn großen Rennen ungeschlagene italienische Vollblüter so schnell, daß ihm seine Geschwindigkeit kürzlich zum Verhängnis wurde. Nachdem das Wunderpferd zum zweiten Male im Pariser »Großen Preis des Arc de Triomphe« gesiegt und seinen Besitzern allein in diesen beiden Rennen rund 600 000 Mark eingebracht hatte, mußte es seine phantastische Laufbahn notgedrungen abbrechen. Der Super-Hengst war nämlich im Begriff, das Wettgeschäft zu stören: Weitere Rennen mit der »Lokomotive Ribot« hätten keine lohnenden Quoten mehr erbracht.

Als Ribot 1955 zum erstenmal beim »Großen Preis des Arc de Triomphe« in Longchamp siegte, betrug die Gewinn-Quote 98:10. Das Pferd war zuvor nur auf italienischen Rennplätzen gelaufen; es mußte sich damals beim schwersten Galopp-Rennen Europas zum erstenmal international bewähren.

Neun Monate später war Ribot beim »King George VI. and Queen Elizabeth Stakes« in Ascot am englischen Wettmarkt klarer Favorit. Gradmesser der Chancen des Pferdes waren die bei den Buchmachern abgeschlossenen festen Wetten, bei denen der Auszahlungskurs vorher festgelegt werden muß. Er war anfangs noch recht hoch; als die Professionellen des Wettgeschäfts aber die Trainingsberichte über Ribot gelesen hatten, zeigten sie nur noch geringe Neigung, sich mit Wetten auf Ribot abzugeben. Es wurden nur noch Siegwetten angenommen; die Gewinn-Quote betrug in Ascot 14:10.

Auch beim zweiten Auftreten Ribots in Longchamp setzte ein großer Teil der Wettlustigen auf den Hengst: die Quote belief sich auf 16:10. Das rauhe Geschäft der Buchmachergilde artete in Philantropie aus, bei der das Risiko für den Wetter gleich Null, der Gewinn - wenn auch der niedrigen Quote entsprechend gering - sicher war. In italienischen Rennen war die Gewinnquote für Ribot bereits auf jeweils 17,19,13, schließlich sogar auf 11 zu 10 gesunken. Italienische Sportjournalisten verdienten sich in Longchamp mit der kärglichen, aber sicheren Quote von 16 zu 10 ihre Reisespesen, als sie nahezu ohne Risiko ihr Monatsgehalt auf Ribots Sieg setzten. Am Ende kapitulierten die Rennstallbesitzer vor dem lästigen Siegerpferd: Sie ließen verlauten, daß sie keine Neigung mehr hätten, ihre Pferde für Rennen zu nennen, in denen Ribot am Start erscheint.

Die Ästheten des Turfs konnten es dem »ordinären Gaul« aus Italien ohnehin nicht verzeihen, daß er die Cracks der großen Rennställe durch seine unorthodoxe Art des Davongaloppierens der allgemeinen Heiterkeit preis gab. Britische Rennexperten sagten dem Hengst Ribot kopfschüttelnd nach: »Er läuft wie ein Hund, nicht wie ein Pferd.«

Tatsächlich ist der Bewegungsstil des Hengstes von einer so unwirklichen Präzision und Geschmeidigkeit, daß die Rennplatzbesucher das Gefühl hatten, einen Schießbuden-Gaul zu beobachten, der an einem unsichtbaren Draht über die Bahn gezogen wird - dem unfehlbaren Sieg entgegen.

Irrtum der Natur

Ribot ist die lebendige, Verkörperung einer Idee, die dem Hirn seines genialen Züchters Federico Tesio entstammt. Tesios Ideal war weniger ein talentiertes Rennpferd, das in zähem Wettkampf mit seinen Konkurrenten den Sieg erringt, als eine Art Heroen-Roß: das Pferde-Pendant zu Nietzsches Übermenschen. »Was ich will«, pflegte der Nietzsche-Jünger Tesio mit boshaftem Lächeln zu sagen, »ist die Züchtung des Überpferdes.«

Für den deutschen Philosophen Nietzsche war der Übermensch das neue Ideal, das er in seinem Buch »Zarathustra« verkündete: weniger ein biologisches Zuchtprodukt als der starke, amoralische, heroische Mensch - Inbegriff der höchsten Steigerung des Lebens. Die Pferde-Variante war gleichsam des Ribot-Züchters Tesio persönlicher Beitrag zur Zarathustra-Lehre.

Die Fachkollegen des Pferde-Cagliostro nahmen dessen Ideen freilich mit nachsichtigem Spott zur Kenntnis. Sie dachten in Nasen- und Kopflängen, während Tesio bei der Ansicht blieb, daß es sich nicht lohne, wegen einiger bescheidener Zufalls-Triumphe ein ganzes Leben für die Pferdezucht zu opfern. Starrköpfig hielt er an der Idee fest, daß jenes fabulöse »Überpferd« kein Wahnbild seiner Phantasie, sondern eine reale Möglichkeit sein müsse, die dem Genie des Züchters von der Natur in die Hand gegeben sei.

Den Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie erbrachte der Italiener am 27. Februar 1952, dem Tage der Geburt des überpferdes Ribot. Als Tesio 1954 im Alter von 85 Jahren starb, hatte er allerdings keine Ahnung, daß sein Traum in Erfüllung gegangen war. Er hielt den auffallend unharmonischen, klein und gedrungen wirkenden Ribot viel eher für einen Irrtum der Natur: Das Pferd war in seinen Augen nur ein häßlicher Außenseiter.

Tesios Urteil hat noch heute eine paradoxe Berechtigung; sein Super-Hengst ist keine Augenweide. Ribot besitzt einen tiefliegenden Bug und einen kurzen Rücken: sein Kopf ist lang und schwer, seine Ohren erinnern an mißratene Papiertüten. Es wird berichtet daß der Züchter den häßlichen Ribot zur klassischen Leistungsprüfung des nationalen Rennstall-Nachwuchses, dem italienischen Derby, gar nicht erst angemeldet habe, weil er ihm keine besonderen Rennqualitäten zutraute. »Wir. alle hielten Ribot für ein höchstens durchschnittliches Pferd«, erinnert sich heute Ribot-Trainer Vittorio Ugo Penco.

Die übernatürliche Schnelligkeit, die Ribot später entwickelte, beruht zum Teil auf der enormen Kraft seiner Hinterhand. Ein französischer Trainer, der das Pferd mit Argusaugen beobachtet hatte, rief plötzlich aus: »Seht euch die Hinterhufe an, sie liegen bei jedem Galoppsprung dicht beisammen!« Ribot-Trainer Penco bestätigte diese Beobachtung des Franzosen: »Die Hinterhand ist so stark, daß die Galoppsprünge des Pferdes ein gutes Stück länger sind als die anderer Vollblüter. Es sieht so aus, als ob seine Beine ganz von selbst ausgreifen, während der Rumpf sich kaum bewegt.«

Stahlflasche in Reserve

Aber nicht die Stärke der Hinterhand, sondern die enorme Kapazität der Lunge des Pferdes ist das Geheimnis der Galoppmaschine Ribot: Mit einem Atemzug soll dieser Vollblüter 26 Liter Luft einsaugen - also fast soviel Luft, wie ein durchschnittliches Pferd beim Ein- und Ausatmen bewegt. Während jedes andere Pferd nach tausend Metern langsamer wird, kommt Ribot in der zweiten Phase des Rennens erst richtig in Fahrt. »Es ist, als ob er eine Stahlflasche mit Sauerstoff in 'Reserve hätte«, erläuterte Trainer Penco dieses Phänomen.

Der Mailänder Tierarzt Dr. Pagliano, der das Überpferd untersuchte, stellte noch eine dritte Absonderlichkeit fest: Ribot hat statt der normalen 38 Pulsschläge der Vollblüter sechs Pulsschläge in der Minute weniger. Nach einem 1800-Meter-Galopp liegt der Pulsschlag bei 85 bis 90; zwei Stunden nach dem Rennen sind Pulsschlag und Blutdruck des Pferdes wieder normal. Ribots Gewicht ist zudem für ein Rennpferd verhältnismäßig gering: es beträgt rund neun Zentner. Trotz des plump wirkenden Körperbaus ist an dem Vollblüter kein überflüssiges Gramm Fett zu entdecken, seine Muskeln sind sehnig und stahlhart; spitzwinklig stehen an Schulter und Rücken die Knochen heraus.

Ribot stammt aus dem Gestüt Dormello bei Arona am Lago Maggiore, das heute gemeinsamer Besitz der Witwe Tesios, Donna Lidia Tesio, und des Marchese Incisa della Rocchetta ist. Dort gelang dem Schöpfer des Wunderpferdes vor zwanzig Jahren ein anderer, kaum geringerer Zuchterfolg: Tesios Pferde-Alchimie verdanken die Italiener die Züchtung ihres Nationalhelden Nearco, einem in vierzehn internationalen Rennen siegreichen Braunen, der Schönheit, Eleganz und Schnelligkeit auf so faszinierende Weise vereinigte, daß Englands Vollblutzüchter sich den Hengst 1938 für die Aufbesserung der Rasse sicherten. Der heute 22jährige Nearco wurde der Stammvater vieler erfolgreicher Rennpferde, unter denen sich gut zwei Dutzend internationale Sieger befinden.

Tesio hat das Geheimnis seiner Zuchterfolge stets eifersüchtig gewahrt. Der Züchter stammte aus Turin, wo er nach dem frühen Tod seiner Eltern in einem Internat erzogen wurde. Dort interessierte sich der Pater Francesco Denza für ihn, ein universell gebildeter Kleriker, der einen bedeutenden Ruf als Astronom besaß. Die kosmischen Theorien des Paters entzündeten in seinem Zögling die Leidenschaft für eine Art Okkultismus- die seinem intuitiven Pferdeverstand später einen mystischen Akzent verlieh.

Lästige Ausfrager fertigte Tesio mit einem Trick ab, der bei ihnen den Eindruck hinterließ, daß der Pferdezüchter ein streng wissenschaftlich denkender Mensch sein müsse. Er setzte sich umständlich eine Nickelbrille auf und erläuterte an den Stammbäumen seiner Pferde das Funktionieren der Mendelschen Vererbungsgesetze. Was er in Wirklichkeit betrieb, war indessen weniger Wissenschaft als »Blut-Alchimie«, eine intuitive Methode der Kreuzungen, die eher wie Hexerei wirkte.

Denn materialistische Zuchttheorien waren dem Pferde - Mystiker Tesio ein Greuel. »Ein Pferd galoppiert mit seiner Lunge«, behauptete er. »Es hält durch mit seinem Herzen; aber es gewinnt nur mit seinem Charakter.« Der Italiener glaubte an Wahlverwandtschaften unter den Pferden, an »Liebe auf den ersten Blick«, die er für erfolgversprechender hielt als alle rationalen Theorien über die perfekte Zuchtauslese.

Er erläuterte seine eigentümlichen Ansichten mit einer Anekdote über das Siegerpferd im englischen Derby 1908, der italienischen Stute Signorinetta. Deren Mutter Signorina sollte seinerzeit von dem Renommierhengst der englischen Vollblutzucht, Isinglass, gedeckt werden. Auf dem Gelände des Deckgestüts begegnete ihr der mittelmäßige

Vollblüter Chaleureux, dem die italienische Stute unmißverständlich ihre Sympathie zu erkennen gab. Die Frucht dieser Liaison war Italiens erste Derby-Siegerin Signorinetta.

Aber nicht alles an der Pferde-Philosophie des Ribot-Züchters war Schwärmerei. In seiner nachgelassenen Schrift »Das Vollblut als Zuchtversuchstier« nannte Tesio Schnelligkeit und Haltung als die beiden Grundeigenschaften eines guten Rennpferdes. Unter »Haltung« verstand er jene für die Bewertung eines Rennpferdes entscheidende Fähigkeit, seine Schnelligkeit einer gegebenen Rennstrecke anzupassen:. »Zeitlich ausgedehnte Schnelligkeit bedeutet Haltung, während relative Schnelligkeit niemals Haltung bedeutet.«

»Geneologische Alchimie«

Schnelligkeit mit Haltung oder Ausdauer zu paaren, ist ein Grundziel jeder Vollblutzucht. Der englische Ausdruck »thorough-bred« sagt genauer als der deutsche, um was es geht: um die vollständige Durchzüchtung eines Pferdetyps, der Schnelligkeit, Sensibilität und Eleganz mit Härte und Zähigkeit vereint. Härte ist in der Sprache des Züchters- nicht physische Robustheit, sondern Durchhalte-Energie, die das hochgezüchtete Rennpferd konzentrierten Belastungen gegenüber aufbringen muß.

Das Geheimnis der großen Züchter ist die Entwicklung idealer Eigenschaften aus der richtigen Zuchtwahl; die kalkulierte Mischung biologischer Möglichkeiten, die allerdings kein Rechenexempel, sondern ein Experiment mit ewig ungewissem Ausgang ist - wie es bei Tesio heißt: »genealogische Alchimie«. Wenn man gute Zuchtbedingungen für ein großes Rennpferd schaffen wolle, so lehrte Tesio, müssen sich unter den 62 direkten Vorfahren Gewinner der Strecken »klassischer« Rennen* befinden, außerdem mindestens ein »Miler«, also ein schnelles Mittelstrecken-Pferd. Ein Champion - Vollblüter müsse schnell sein im Zustand »nervöser Anspannung«, in dem er eine letzte Steigerung seiner Kraft gleichsam spielend erreichen sollte. Italiens Karosseriebauer Orlandi übersetzte diese Formel kürzlich in die Sprache des Motorsports. Er nannte Ribot »ein Pferd, das den fünften Gang besitzt«.

Wie alles Vollblut der Welt stammt auch der Superhengst Ribot von den drei orientalischen Ahnherren der englischen Vollblüter-Aristokratie ab. Diese waren: Der Türkenhengst Byerley Turk, der 1683 bei der Belagerung von Wien erbeutet wurde, der in Smyrna geborene Darley Arabian und der Nordafrikaner Godolphin Arabian, von dem es heißt, daß der Bei von Tunis ihn Ludwig XV. von Frankreich zum Geschenk gemacht habe.

Adelsregister der Vollblüter

Auf diese Ahnen aus dem Orient beruft sich der englische Pferde-Gotha, das Britische Gestütbuch, in dessen erstem, 1793 erschienenen Band die Nachkommenschaft der drei Orientalen in den Adelsstand des englischen Vollbluts erhoben wurde. Die 33 bisher veröffentlichten Bände des »General Stud Book« gelten in allen Rennställen der Welt als maßgebliches Abstammungs-Register. In der Ahnenreihe jeglichen »authentischen« Vollblüters taucht irgendwann einmal der Name eines berühmten englischen Zuchtpferdes auf, verbunden mit einem stolzen Hinweis auf den britischen Pferde-Gotha.

Englands Vollblutexperten nahmen den Stammbaum des wundersamen Pferdes Ribot besonders scharf unter die Lupe. In der sechsten Generation stießen sie auf einen Ahnen, der ihnen zu denken gab, auf den englischen Zuchthengst St. Simon. Das Pferd gehörte zum Rennstall des Herzogs von Portland, der es für 1600 Guineas (fast zwanzigtausend Mark) ersteigert hatte. St. Simon gewann niemals einen bedeutenden Preis; er beendete seine Rennlaufbahn als Dreijähriger, da sein Besitzer 1884 starb und das Pferd gemäß den Rennbestimmungen für einen anderen Stall nicht starten durfte. Der Hengst verschwand in einem Gestüt, wo er sich um die Erhaltung der Vollblutrasse sehr verdient machte.

In der Ribot-Genealogie taucht der Name St. Simon siebenmal auf: Er ist fünfmal in der väterlichen und zweimal in der mütterlichen Linie zu finden. Eine so starke Konzentration der Anlagen eines einzigen Pferdes mußte die Experten veranlassen, sich mit jenem geheimnisvollen St. Simon näher zu beschäftigen. Sie fanden heraus, daß der Ahne Ribots ein Pferd besonderer Art gewesen war: St. Simon besaß statt der normalen 18 nur 16 Rippen und statt sechs nur fünf Lendenwirbel; zudem war dem Hengst ein Galoppstil eigen, der im vorigen Jahrhundert das gleiche indignierte Erstaunen hervorrief, wie heute die skurrile Art Ribots, sich mit der doppelten Gelenkkraft seiner Hinterhand nach vorne zu schnellen. Der Herzog von Portland äußerte sich damals über seinen Hengst: »Er läuft wie ein Kaninchen.« Die Stammbaum-Detektive vermuten, daß es der Züchter Tesio bei den Nachkommen St. Simons auf diesen »Kaninchen-Stil« abgesehen hatte.

Eine weniger pfiffige Deutung des Phänomens Ribot begnügt sich mit einer Analyse der drei letzten Generationen des Stammbaumes Nach dieser Lesart soll der »Fausto Coppi« des italienischen Turfs - wie die Pariser Sportjournalisten das Tesio-Pferd scherzhaft-bewundernd nennen - das Produkt einer großen männlichen Linie sein, die auf den Urgroßvater Ribots, Cavaliere d'Arpino, zurückgeht. Mit Cavaliere d'Arpino errang Tesio einen seiner ersten Triumphe. Der Sohn Bellini - Ribots Großvater - war ein nicht minder berühmtes Siegerpferd; er gewann zum Beispiel im Jahre 1940 das »Braune Band« von München-Riem.

Bellini, der nach dem zweiten Weltkrieg in ein russisches Gestüt verschlagen wurde, war kein »Steher«, kein Langstreckenpferd also. Seine Siegeschance war der unwiderstehliche »Rush« auf den letzten fünfzig Metern eines Rennens - der allerdings genau kalkuliert sein mußte: »Ein Irrtum von nur einem Meter«, urteilte Tesio, »bedeutete die Niederlage.«

Der Vater Ribots, Tenerani, war dagegen ein brillanter Langstrecken-Renner, der 16 Rennen, unter ihnen die 4200 Meter des Goodwood Cup, siegreich bestand und seinem Stall nicht weniger als zwölfeinhalb Millionen Lire (rund 84000 Mark) und über 9000 englische Pfund (über 100 000 Mark) einbrachte. Tenerani, der 1951 als Zuchthengst nach England verpachtet wurde, war das erste italienische Pferd, das mit einem Flugzeug transportiert wurde. Das geschah im Sommer 1948 unter Umständen, die für den Züchter Tesio einen dramatischen Beigeschmack hatten: Die Fluggesellschaft, die zuvor noch niemals Pferde transportiert hatte, bestand darauf, daß Tesio das Pferd mit geladener Pistole begleiten müsse. Für den Fall, daß Tenerani unruhig würde, war vorgesehen. daß der Züchter das Tier sofort zu erschießen habe.

Im Vergleich zu dieser außergewöhnlichen väterlichen Linie gelten die mütterlichen Vorfahren Ribots als schwächer. Die Großmutter mütterlicherseits, Barbara Burrini, die von Tesio als Fohlen für 350 Guineas (4300 Mark) erworben wurde, stammte aus dem gleichen Gestüt Newmarket, in dem sich der genialische Enkel nun ein Jahr lang an Haremsfreuden ergötzen soll. Auf bedeutenden italienischen Rennen bewies Barbara Burrini ihre Spitzenklasse; Tesio betrachtete den Erwerb der Stute stets als »Glückskauf«. Die Mutter Ribots, Romanella, lief nur als Zweijährige. Sie gewann den »Criterium Nazionale«; danach mußte sie zurückgezogen werden, weil ihre Bissigkeit und Schlaglust Ärgernis erregten. Sie galt als unberechenbar und krankhaft launisch; bei mehreren ihrer nächsten Blutsverwandten waren diese Symptome eines abnormen Charakters in noch krasserer Form vorhanden.

Anzeichen einer gewissen »Verrücktheit« wollen die Turf-Experten auch an Ribot beobachtet haben. Seltsamerweise benahm sich das Wunderpferd nur auf dem Rennplatz verständig und gelassen; außerhalb des Turfgeländes geriet es leicht in Erregung; es wurde dann ebenso bissig und unberechenbar wie seine exzentrische Mutter Romanella.

Um das Pferd ständig bei guter Laune zu erhalten, verfiel der Jockey Ribots, Enrico Camici, auf einen Trick. Er hatte beobachtet, daß sich der Hengst Ribot auf der Koppel des Zuchtgestüts zu einem ungewöhnlich phlegmatischen Rennpferd, dem Hengst Magistris, hingezogen fühlte. In der Nähe von Magistris, der als »braves Tier« galt, legte Ribot seine Tücken prompt ab; er benahm sich unter dem Einfluß dieses simplen Pferdegemüts wie ein ganz normales Roß.

Magistris wurde durch die Freundschaft zu Tesios Überpferd um seine - freilich ohnehin nicht sonderlich erfolgversprechende

- Rennkarriere gebracht. Man degradierte

den Hengst zum ewigen Reisebegleiter Ribots. Ohne das vertraute Wiehern des Magistris war Ribot, wie sein Jockey Camici behauptet, »einfach nicht zu gebrauchen«.

»Pferd des Jahrhunderts«

Acht Wochen nach dem Tode seines Züchters Tesio erschien der Hengst zum ersten Male bei einem öffentlichen Rennen: Es war die erste Leistungsprüfung der Zweijährigen, der »Premio Tramuschio« von Mailand, der über die Tausend-Meter-Strecke ging. Favoritin war Ribots Stallgefährtin Donna Venitiana, die von Ribot jedoch mühelos um eine Länge geschlagen wurde. Seinen zweiten Sieg errang das sonderbar häßliche Pferd beim Mailänder »Criterium Nazionale« über 1200 Meter; seinen dritten beim »Gran Criterium« über 1500 Meter. Bei diesem Rennen schlug Ribot seinen Gegner Gail aus dem italienischen Gestüt Soldo nur um Kopflänge: Es war der einzige »normale« unter sechzehn triumphalen Siegen.

Italiens Star-Jockey Camici, der Ribot ritt, bekannte nach dem Rennen, daß er einen Fehler gemacht habe. Er hatte Ribot zu fest im Zügel gehabt und zunächst seinen Lauf gehemmt, weil er verhindern wollte, daß sich das Pferd vorzeitig ausgibt. Camici stellte sich alsbald auf das Rennwunder, das seiner Obhut anvertraut war, richtig ein. Er nahm sich die Mühe, Ribot auch im täglichen Training zu reiten, nachdem sich gezeigt hatte, daß der Hengst keinen anderen Reiter duldete. Ein Stallbursche, der den Versuch machte, einen Ritt mit Ribot zu unternehmen, mußte seinen Wagemut mit dem Leben bezahlen.

Ein halbes Jahr nach seinem knappen Sieg über Gail schlug Ribot das gleiche Pferd zur maßlosen Verblüffung aller Habitués des italienischen Turfs um sechs Längen. Ribot steigerte seinen Vorsprung vor den Konkurrenten bei den folgenden italienischen Rennen auf acht, zehn und schließlich, beim Mailänder »Premio del Jockey Club«, auf fünfzehn Siegerlängen.

Am 9. Oktober 1955 erschien der Hengst auf der Bahn von Longchamp. Er siegte gegen 23 Rennpferde der Weltklasse im »Großen Preis des Arc de Triomphe« mit drei Längen vor Beau Prince II.

Die nächste große internationale Bewährungsprobe für den Vierjährigen war Ascot: im wertvollsten Rennen Europas nach dem »Großen Preis des Arc de Triomphe« siegte Ribot mit fünf Längen Vorsprung gegen das Pferd der englischen Königin, den Dreijährigen High Veldt; der Siegerpreis betrug fast 24 000 Pfund - über 280 000 Mark. Die Presse taufte den italienischen Hengst jetzt in aller Form »das Pferd des Jahrhunderts«; sie nannte Tesio den »unbestritten größten Vollblutzüchter aller Zeiten«.

Marchese Incisa della Rocchetta, der nach dem Tode des »Magiers von Dormello« die Leitung des Gestüts übernommen hatte, erhielt märchenhafte Kaufangebote. Ein amerikanisches Rennsyndikat bot für Tesios Überpferd 1 300 000 Dollar - fast fünfeinhalb Millionen Mark. Ein englisches Konsortium war sogar bereit, für Ribot eine Kaufsumme von 500 000 Pfund Sterling zu zahlen: 5 865 000 Mark.

»Die Franzosen sind boshaft«

Trotz des Risikos, durch eine Niederlage Ribots die außerordentliche Höhe dieser Angebote aufs Spiel zu setzen, wich der Marchese einer neuen großen Bewährungsprobe für Ribot nicht aus: Er entschloß sich, den Hengst am 7. Oktober vorigen Jahres ein zweites Mal beim »Großen Preis des Arc de Triomphe« in Longchamp laufen zu lassen. Dieser Entschluß erschien den zumeist sehr abergläubischen Fachleuten äußerst gefährlich: Das einzige italienische Pferd, das zweimal im »Arc de Triomphe« gestartet war, der Hengst Ortello, hatte zwar 1930 gesiegt - doch war er im nächsten Jahr nur als Vierter durchs Ziel gegangen. Aus diesem Grunde hatte auch Tesio ein anderes seiner Wunderpferde, Nearco, nur ein einziges Mal in Longchamp laufen lassen.

Die Rennstrecke von Longchamp gilt als ausgesprochen schwierig. Die Zielgerade ist nur 400 Meter lang; sie wird durch eine sehr scharfe Kurve eingeleitet. Die um Ribot besorgten Italiener rechneten zudem mit gewissen Tücken der französischen Jockeys. »Die Franzosen sind besonders boshaft«, erläuterte der italienische Schriftsteller Guido Piovene, ein passionierter Besucher internationaler Pferderennen, seinen Landsleuten. »Sie werden versuchen, Ribot einzuklemmen.«

Am 7. Oktober traten um 16.47 Uhr in Longchamp 20 Rennpferde der internationalen Spitzenklasse, unter ihnen zum ersten Mal auch zwei Amerikaner, zum Start an. Nach den ersten 200 Metern atmeten die Besucher des Rennplatzes auf. Die Befürchtung Piovenes erwies sich als grundlos. Ribot hatte sich auf dieser kurzen Strecke bereits aus dem Schwarm gelöst und lag hinter dem amerikanischen Hengst Fisherman und dem Franzosen Norfolk in dritter Position.

Abschiedsfest mit Churchill

Als das Pferd die Kurve vor den letzten vierhundert Metern nahm, wirbelte Jockey Camici mehrmals kurz mit den Armen, um Ribot das Zeichen zum Angriff zu geben. Es war, als ob der Jockey auf das Gaspedal eines Rennwagens getreten hätte. Ribot verdoppelte fast augenblicklich seine Geschwindigkeit. Mit sechs Längen siegte er vor der internationalen Elite des Galopprennsports.

Als Jockey Camici nach dem Sieg Ribots von seinem Renner stieg, äußerte er lakonisch: »Es gibt kein Auto auf der Welt, das derartige Reserven in seinem Motor besitzt.« Unter dem Jubel des Publikums wurde der Hengst in seine Box geführt; die Stallburschen rieben ihm den Schweiß mit weißen Tüchern ab. Das Pferd atmete schon wieder nahezu normal, als ob es sich kaum angestrengt hätte.

Vor der Stalltür wartete die Tochter des Mitbesitzers, die Marchesina Orietta Incisa della Rocchetta, die von Ribot am Vorabend des Rennens beinahe gebissen worden wäre. Als distinguierter Gratulant meldete sich auch der Herrenreiter Ali Khan. Er riskierte eine Liebkosung; das Pferd bäumte sich plötzlich auf, ließ sich dann aber die schmeichelnde Hand des Frauenhelden willig gefallen.

Nach seinem zweiten Sieg in Longchamp war Ribot ein Mythos geworden. Das Pferd hatte seinem Stall in sechzehn Rennen rund anderthalb Millionen Mark eingebracht. Sein Wert war kaum mehr zu schätzen; er lag jedenfalls wohl über den rund sechs Millionen Mark, die dem Gestüt Dormello nach dem Sieg in Ascot von Englands Züchter-Konsortium für Ribot geboten worden waren.

Das Gestüt Dormello beschloß im November vorigen Jahres, den Hengst endgültig aus dem Rennen zu ziehen. In Mailands Hippodrom San Siro trat Ribot noch einmal zu einem Abschieds-Galopp an. Als er zum Start geführt wurde, blieb er vor der großen Tribüne stehen und führte dann den Zuschauern einen sogenannten »canter« vor, einen leichten Galopp, dessen Stil das Pferd selbst bestimmt. Die Puristen unter Mailands Pferdefreunden nörgelten über diese Extravaganz. Ribots, die Zuschauer aber klatschten frenetisch Beifall. Unter ihnen saßen die Pferdeliebhaber aus ganz Europa; Ali Khan ließ der Mitbesitzerin Donna Lidia Tesio einen riesigen Korb Orchideen überreichen.

Noch ein anderer illustrer Pferdefreund war nach Mailand geflogen, um sich Ribots Abschiedsvorstellung anzusehen: Winston Churchill. Er hatte sofort nach Ribots zweitem Pariser Sieg ein langes Telegramm mit bezahlter Antwort an den Marchese Incisa della Rocchetta geschickt und darin gebeten, einen »Sprung« für die beste Stute in seinem Stall vorzumerken. Bei einem Sektfrühstück zu seinen Ehren- machte der passionierte Pferdefreund Churchill eine Bemerkung, die der Creme der internationalen Turfisten nach dem Herzen geredet schien. Churchill sagte mit weisem Lächeln: »Gebt euer Geld nicht euren Kindern. Vielleicht verschwenden sie es. Gebt es an ein Pferd.«

1600, 2000, 2400, 3000 Meter.

Überpferd Ribot: Zoologische Variante der Nietzsche-Philosophie

Maler Ribot

Künstlernamen für Rennpferde

Züchter-Ehepaar Tesio: Zuchtziel war das Überpferd

Stollgefährte Magistris, Ribot: »Ohne den Begleiter nicht zu gebrauchen«

Kibot-Trainer Penco »Er läuft wie ein Hund«

Stammväter der englischen Vollblutzucht: Ahnengalerie in 33 Bänden

Siebentaher Ribot-Urahn St. Simon: »Er läuft wie ein Kaninchen«

Galoppmaschine Ribot bei der Abschiedsrunde: Es gibt kein Auto, das derartige Reserven besitzt«

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