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BERLIN Frau Hitler reicht das Gift

aus DER SPIEGEL 28/1950

Eva Braun benimmt sich recht würdig. Während der russisch verfilmte »Fall von Berlin« (Teil II) im Ostberliner Babylon-Kino seinem Ende zustrebt, verteilt die schöne, frischgebackene Frau Hitler erhobenen Hauptes Gift an die Gäste.

Ehemann Hitler, mit gekrümmtem Rükken und angstverzerrtem Gesicht wie ein verfolgungswahnsinniger Tyrann aus Stummfilmzeiten, sieht zu, wie Eva seinen Schäferhund vergiftet - zur Probe.

Vor seinem Selbstmord bekommt Film-Hitler noch eine Chance, im großen Stil zu töten Er läßt den S-Bahn-Schacht am Potsdamer Platz überfluten, in dem Tausende von Frauen, Kindern und Verwundeten die letzten Kriegstage Berlins abwarten.

Die alte russische Falschmeldung vom Massensterben im S-Bahn-Tunnel hat schon Wolfgang Staudte im DEFA-Film »Rotation« mit dramatisch Ertrinkenden schwarz-weiß verfilmt. Michail Tschiaureli, der 66jährige Regisseur vom »Fall von Berlin«, ehemaliger Schlosser, Theaterregisseur, Maler und Bildhauer, hat den nie stattgefundenen Massenmord bunt ausgeführt. Berliner Arbeitslose gingen gern als Statisten für 140 Ostmark Tagesgage auf einige Stunden ins Wasser.

Aber Tschiaureli brachte im Herbst 1949 auch russische Statisten zu Außenaufnahmen mit nach Berlin. Sie eroberten in den Babelsberger Ateliers blutbeschmiert und Hurrä-schreiend den Reichstag (siehe Rückseite). Der Original-Reichstag konnte nicht zum zweitenmal erobert werden, denn er liegt wenige Schritte hinter dem Brandenburger Tor im britischen Sektor.

Die 10000 russischen Statisten, zum größten Teil Mongolen, machten damals die Gegend um Potsdam äußerst unsicher. Überfälle und Morde füllten die Drehpausen einiger Komparsen. Sie fühlten sich wieder in den Siegestaumel von 1945 versetzt und spielten ihren eigenen »Fall von Berlin« - ohne Drehbuch.

Im Drehbuch ist nur vom Heldenkampf die Rede. Boris Andrejew verkörpert den Prototyp des Helden, dabei sehr rundlich und gutmütig. Andrejew ist der populärste russische Filmschauspieler. Früher war er Schlossermeister. Auf der Leinwand spielt er oft Traktoristen und Soldaten.

Am »Fall von Berlin« beteiligt er sich als muskulöser, wenig wortgewandter Stachanowarbeiter Iwanow und späterer Sergeant, dem der Krieg seine Liebste, eine Lehrerin, entrissen hat. Erst auf dem Tempelhofer Flugplatz, wo sich die russischen Truppen zur Begrüßung Stalins einfinden, trifft und umarmt Iwanow seine Braut, die lebend einem deutschen KZ entkam.

Doch sie läßt den Freund noch einmal stehen und eilt, Stalin zu küssen. Hysterischer Jubel umtost den ruhig lächelnden Diktator.

Stalin befaßt sich im zweiten Teil des Films kaum noch mit dem verrückten Hitler und dessen verzweifelten Generalen. Er kämpft mit Churchill und Eisenhower. Er drängt zur Eile, denn die größte Gefahr ist für ihn, »die Deutschen können Berlin kampflos den Alliierten überlassen«.

»Diese Panzer und Geschütze reichen nicht nur für das 'Unternehmen Berlin',« ruft Stalin stolz und wenige Augenblicke später: »So wollen wir den Frieden der Welt hüten, das Glück für euch alle, meine Freunde!«

Das Programmheft läßt über die Rollenverteilung keinen Zweifel. Es heißt darin:

»Während Adolf Hitler »nur« sechs Millionen Juden in seinen Gasöfen vernichtete, will Harry Truman mit seiner Wasserstoffbombe gleich sechzig Millionen Erdenbürger töten. Beide sind wahnsinnig und wahnsinnig dumm, und sie werden die Opfer ihrer eigenen Propaganda, wenn ihnen die Völker nicht rechtzeitig die Brandfackel aus den Fingern schlagen.« Soweit der Vorspruch.

»Man kann die Brutalität des Krieges nicht verschweigen, wenn man sichtbar machen will, wie notwendig das friedliche Leben für alle Menschen ist,« sagt Regisseur Tschiaureli über seinen Film. Pawlenko, Mitautor des Drehbuches, trat bei der Berliner Premiere, bebrillt, mit roter Krawatte, an das Vortragspult und kündigte eine »Entlarvung des Militarismus« an.

Ein blondes FDJ-Mädchen dankte mit einem Blumenstrauß und wurde von dem russischen Autor zur Belohnung in die Wange gekniffen.

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