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SKIFLIEGEN Fische fliegen weiter

aus DER SPIEGEL 9/1955

Zum erstenmal seit drei Jahren sollen sich am Ende dieser Woche die internationalen Skiflieger-Könige in Oberstdorf treffen. Die Eingeweihten blicken dem Ereignis mit ungewissen Erwartungen entgegen. Sie sind vor allem darüber gänzlich im unklaren, ob Oberstdorf im Allgäu mit seiner »IV. Internationalen Skiflugwoche« noch einmal so viele zahlende Zuschauer anlocken kann wie in der guten alten Zeit der Jahre 1950 bis 1952.

Als 1950 die erste Skiflugwoche propagiert wurde, wallfahrteten 170 000 Menschen - etwa so viele, wie Kassel Einwohner hat - zu der von Heini Klopfer eben errichteten Monumentalschanze im Birgsautal, um mit Hilfe des für Deutschland neuen »Ski-Fluges"*) das Gruseln zu lernen. Ihre Sensationslust wurde gestillt. Mit einem Satz über 135 Meter verbesserte damals der Schwede Dan Netzell den Weltrekord des Schweizers Fritz Tschannen gleich um 25 Meter; auch mangelte es nicht an Stürzen.

Ein Jahr später kamen zur zweiten Flugwoche nur mehr hunderttausend, davon siebzigtausend am Schlußtag. Ihnen spendete der dreikäsehohe Finne Tauno Luiro abermals einen neuen Weltrekord: 139 Meter. Wieder ein Jahr später wurden bei der dritten Flugwoche noch einmal etwa 100 000 Menschen gezählt. Sie mußten ohne Weltrekord-Ergebnis von hinnen ziehen.

Dann trat für Oberstdorf die große Pause ein. Die FIS (Fédération Internationale de Ski), um ausgleichende Gerechtigkeit bemüht, legte die internationale Flugwoche 1953 nach Mitterndorf in Österreich und bestimmte, daß 1954 im jugoslawischen Planica geflogen werden müsse, ehe sie wieder an Oberstdorf denken könne.

Gerade die Erfahrungen von Planica und Mitterndorf sind es nun aber, die den Oberstdorfern einige Rätsel aufgeben. Sowohl das jugoslawische als auch das österreichische Meeting waren Fehlschläge in sportlicher und in finanzieller Hinsicht.

Tüftler führen das traurige Phänomen auf die allgemeine Übersättigung des Publikums mit großen sportlichen Ereignissen zurück, aber auch auf die Tatsache, daß auf allen europäischen Schanzen die Leistungsgrenzen

*) Mit »Skiflug« bezeichnet man Skispringer-Konkurrenzen, bei denen Weiten von mehr als 100 Meter erreicht werden. erreicht und spektakuläre neue Rekorde praktisch unmöglich sind. Die Unantastbarkeit der alten Bestleistungen gilt - und hier geht es an den Oberstdorfer Lebensnerv - ganz besonders für Heini Klopfers Mammutschanze im Birgsautal.

Eine nach den ersten Oberstdorfer Skiflugwochen erlassene Bestimmung der FIS schreibt nämlich vor, daß der Anlauf verkürzt werden muß, sobald einer der Teilnehmer die sogenannte »kritische Weite« der Schanze um acht oder mehr Prozent überspringt. Da der kritische Punkt*) in Oberstdorf aber bei 120 Meter liegt, müssen die Springer sofort kürzer treten, wenn einer von ihnen 129,60 Meter (120 plus acht Prozent) schafft. Tauno Luiros 139-Meter-Weltrekord bleibt deshalb in unerreichbarer Ferne.

Überhaupt haben die Bestimmungen, nach denen jetzt in Oberstdorf gesprungen werden soll, bisher wenig Begeisterung ausgelöst, am wenigsten beim Publikum. Denn in diesem Jahr wird nicht - wie früher und wie vom schlichten Volksverstand gewünscht - der weiteste Flug über den Sieg entscheiden. Statt der für jeden Zuschauer leicht überschaubaren Wertungsmethode »je weiter, je besser« soll von fünf Punktrichtern eine komplizierte Punktwertung, die auch die Haltung des Skifliegers berücksichtigt, praktiziert werden. Da kann es dann durchaus geschehen, daß der Mann, der die größten Sprünge tut, wegen miserabler Haltung nur zweiter, dritter oder vierter wird.

Diese Beurteilungs-Methode ist zwar bei den Meisterschaften und olympischen Wettbewerben der Ski-Springer allgemein üblich. Weil aber ihre Ergebnisse, für das Publikum unkontrollierbar, von der subjektiven Meinung der Punktrichter abhängen, war es gemeinhin begrüßt worden, daß die Oberstdorfer auf die Punktwertung verzichteten und nur die Weite gelten ließen.

Nun gibt es allerdings eine Bewertungsmethode, die indirekt auch der Haltung des Skifliegers zu ihrem Recht verhilft und dennoch objektiv ist. Aber ihr geistiger Vater, der Schweizer Dr.-Ing h. c.

*) Der »kritische Punkt« wird nach den Größenverhältnissen der Schanze errechnet. Seine Lage richtet sich nach dem Abstand zwischen der Schanzenkante und dem Ende der Aufsprungbahn. Reinhard Straumann, hoffte vergeblich, seine Methode bei der bevorstehenden Oberstdorfer Flugwoche endlich einführen zu können. Denn die FIS gestattet ihrem 62jährigen »Chef des Sprunghügelbaus« lediglich, sein System in Oberstdorf inoffiziell anzuwenden.

Straumanns Postulat ist ebenso einfach wie einleuchtend: »Die erreichte Flugweite soll mit der Absprung-Geschwindigkeit in Beziehung gebracht und durch Kombination von Flugweite und Geschwindigkeit sodann die athletische Leistung bewertet werden. Dies geschieht nach der Überlegung, daß derjenige Springer, der mit der kleinsten Geschwindigkeit die größte Weite erreicht, sicherlich am besten segelt. Je stilreiner und zweckmäßiger er abspringt und fliegt, um so größer wird die Sprunglänge.«

Da es nun Schwierigkeiten bereiten würde, die Springer mit einem Tachometer auszustatten, will Straumann mit Hilfe elektrischer Präzisionsuhren*) die Fahrzeit der Teilnehmer über eine bestimmte Meßstrecke stoppen. Dann wird die so gemessene Zeit »Z« einfach mit der Sprungweite »L« multipliziert, woraus sich die Leistungsnote »N« ergibt.

Schon am 26. März 1950 stieg Reinhard Straumann mit seinem System ins Examen. Das war auf der Feldbergschanze im Schwarzwald. Bis auf zwei Ausnahmen kam der Schweizer Experte zu den gleichen Ergebnissen wie die Kampfrichter. Aber voll Skepsis orakelte er schon damals: »Ob das System gegen den vehementen Widerstand der Sprungrichter, die nicht abtreten wollen, eingeführt werden kann, wird die nahe Zukunft lehren.«

Sie lehrte es. Noch heute sperrt sich der Sprungrichter-Veteran Max Kemkes geringschätzig:

*) Dr.-Ing. h. c. Straumann ist selbst Besitzer einer Fabrik für hochempfindliche Meßgeräte. »Wir nehmen die Straumannsche Wertung gar nicht ernst.«

Brisanter, weil sachlicher, sind die Anti-Straumann-Argumente des Sprunglaufreferenten im Deutschen Ski-Verband (DSV) und Erbauers der Oberstdorfer Schanze, Heini Klopfer. Der konzediert zwar, die Straumann-Wertung habe etwas für sich und müsse ausprobiert werden, andererseits werde aber der Stil dadurch beeinträchtigt, daß der Springer »nur noch auf Weite gehe«. Klopfer befürchtet, daß der nach Weite trachtende Skiflieger kurz vor dem Aufsprung die Beine einzieht und andere Manipulationen anstellt, die sich nicht nur schlecht mit der Ästhetik vertragen, sondern auch die Sturzgefahr ungemein vergrößern.

Hier liegt freilich noch ein Mangel der Straumann-Methode. Doch bestreitet niemand unter den Fachleuten, daß gerade der Schweizer Fabrikant durch seine jahrzehntelangen Forschungen viel zur Entwicklung der modernen, strömungsgünstigen Sprunghaltung beigetragen ja einen ganz neuen Stil entwickelt hat. Dieser Stil wird im Gegensatz zu dem klassischen »Vogelflug«, bei dem der Springer mit vor- und seitwärts ausgestreckten Armen durch die Luft ruderte, zoologisch paradox als »Fischflug« bezeichnet.

Straumann, dem der Ehrentitel eines »Vaters des Skiflugs« zuteil wurde, hatte seine Gedanken über das Springen wissenschaftlich zu untermauern begonnen, als ihm im Jahre 1925 ein schwerer Sturz, bei dem er sich den Knöchel und das Schlüsselbein brach und die Bauchmuskeln verletzte, Zeit und Muße dazu gab. 1926 studierte er im Windkanal des Aerodynamischen Instituts der Universität Göttingen die Auswirkungen des Sprungstils an einer fast lebensgroßen Puppe.

Siebenundzwanzig Jahre später, im Dezember 1953, hängte der ruhelose Forscher seinen Freund, den Schweizer Meisterspringer Andreas Däscher, mit voller Ausrüstung in den Windkanal der aerodynamischen Anstalt der Schweizer Fliegertruppe und ließ ihn 80 verschiedene Stellungen einnehmen. Das lebende Modell brachte ihn endlich ans Ziel. Straumann entdeckte den Fisch-Stil

Danach steht jetzt ziemlich fest, daß das Ausstrecken der Arme nach vorn und nach oben - die »Vogel-Haltung« - hemmende Wirbel erzeugt und Gleichgewichtsstörungen begünstigt. Dagegen wird der Widerstand

des Körpers verringert und die Tragfläche verbreitert, wenn der Springer die Arme als stabilisierende Flossen an den Körper anlegt.

Die Windkanal-Versuche sind der letzte Schritt zur technischen Perfektionierung eines Sports, der als naives Urvergnügen begann. Anfang der zwanziger Jahre noch waren die Springer steil aufgerichtet vom Sprungtisch geschnellt. Infolge des starken Luftwiderstandes beschrieben sie eine besonders ausgeprägte ballistische Kurve: Nach kurzem Luftkampf plumpsten sie steil herunter.

Mit dem Ausmaß der Schanzen wuchs auch der Wille, sich unter erhöhten Anforderungen zu behaupten. Abseits der Wissenschaft entwickelten die fliegenden Menschen aus dem Gefühl heraus ihren wesentlich günstigeren Vogel-Stil. dem aber noch die letzte aerodynamische Politur fehlte.

Der moderne aerodynamische Stil, dem Reinhard Straumann unablässig nachspürte, wird jetzt vor allem von den Finnen erfolgreich angewendet. So schlug der in Mitteleuropa nahezu unbekannte Ossi Laaksonen aus Suomi mit dieser Technik bei der Schweizer Springerwoche sogar den norwegischen Olympiasieger Arnfinn Bergmann, weil die Norweger sich von dem klassischen Vogel-Stil noch nicht ganz gelöst haben.

Das Bestreben, mit Hilfe der Wissenschaft dem absoluten Leistungsgipfel möglichst nahe zu kommen - ein modernes Charakteristikum nicht nur des Skisports - , greift heute so weit um sich, daß die Experten sich sogar von dem Erfinder des V-1-Antriebs, dem Diplom-Ingenieur Paul Schmidt, einschlägig beraten lassen.

Es sei ein abgestandener Schmarren - das etwa war aus Schmidts Worten zu entnehmen - , daß die Skispringer auf einem Luftpolster angenehm gebettet durch die Luft flögen, wie poesievolle Rundfunksprecher es gern behaupten. Vielmehr habe den Hauptanteil am Phänomen

des Fliegens der über dem Körper entstehende Unterdruck mit seiner Saugwirkung. Der Unterdruck entstehe dadurch, daß die Luft den Körper auf einer bogenförmigen Bahn umströmt, die ihr der Rücken des Skispringers vorschreibt.

Man erzählte Paul Schmidt von dem eigenartigen Sprungstil des langen Norwegers Thorbjörn Ruste, der einen auffallenden Buckel macht und damit kürzlich die internationalen Sprunglauf-Konkurrenzen in Innsbruck und Bischofshofen gewann. Freudig sagte der Gelehrte, Ruste sei »der praktische Beweis für die günstige Ausbildung der Luftströmung«, wie sie eben nur ein gekrümmter Körper bewirke.

Vielleicht trägt der Buckel den Skiflieger noch weiter seiner absoluten Grenze entgegen. Wo diese Grenze liegt? Auch darüber hat sich der Schweizer Flugpionier Reinhard Straumann manche Gedanken gemacht. Sie laufen darauf hinaus, daß allein die Gefahren beim An- und Auslauf dem Springer seine Grenzen stecken. Aber: »Nach meiner Schätzung können Anlaufgeschwindigkeiten von über 120 Kilometern in der Stunde*) noch sicher beherrscht werden. Es ergäbe sich eine Sprungweite von 150 Metern.«

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