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»Über die eigene Todesangst hinauswachsen«

Werner Herzog über die Jagd der Skiflieger auf die 200-Meter-Marke Filmregisseur Herzog, 43, war als Jugendlicher Skispringer. Den Schweizer Walter Steiner, 1972 erster Weltmeister im Skifliegen von der Großschanze, porträtierte er in einem Dokumentarfilm. *
aus DER SPIEGEL 12/1986

Der Weitenrichter Karl Hillbrand, ein sehniger durchtrainierter Mann, dem man seine 68 Jahre nicht ansieht, ist für die 193-Meter-Marke zuständig. Ja, sagt er, er hoffe, bei ihm gehe einer nieder. Das wäre Weltrekord.

Es ist der zweite Wertungstag zur Weltmeisterschaft der Skiflieger. Die Mammutschanze am Kulm bei Bad Mitterndorf in der Steiermark, ein wahrhaft urweltlich wirkendes Ungetüm, das größte Katapult, das Menschen bisher gebaut haben, dient einer Handvoll waghalsiger Burschen dazu, sich in die gähnende Tiefe hinausschleudern zu lassen.

Der weiteste Flug bisher wurde vor einem Jahr im jugoslawischen Planica von dem finnischen Wunderkind Matti Nykänen bei 191 Meter Weite gelandet. Nykänen war die beherrschende Figur der letzten Jahre. Er hat den Körper eines Knaben, zart und zerbrechlich, dazu das engelhafte Gesicht eines Kleinkindes. Man möchte ihm helfen, ihn trösten, ohne zu wissen, für was. Dabei scheint der Junge in sich zerrissen zu sein, bisweilen zum Jähzorn neigend. Die halbe Saison lang hat ihn der finnische Verband aus der Mannschaft verstoßen, weil er, wie es heißt, Alkoholprobleme habe und in eine Prügelei mit einem Betreuer verwickelt gewesen sein soll.

Als Nykänen einem Geschoß gleich über den Vorbau hinaus in den Abgrund fliegt, ist seine Bahn so erschreckend hoch, daß für einen Moment lang die Herzen der Zuschauer still stehen. Wie alle großen Vögel umschwirrt ihn ein lautes, unirdisches Rauschen. Niemand, der so etwas nur im Fernsehen gesehen hat, bekommt jenes gewaltige Brausen in der Luft wirklich mit. Luftminen, die im Krieg niedergingen, müssen ähnlich geklungen haben.

Dann, als Nykänen die Arme auseinanderreißt, sich aus seiner zur Waagerechten gezogenen Vorlage aufrichtet und so Luft fängt, geht das Klatschen seiner vorzeitigen Notlandung bei 183 Meter in dem Angstschrei von Tausenden unter. Da seien, meint Hillbrand, 205 Meter drin gewesen, vielleicht 210, wäre der Flug ausgeflogen worden.

Um den sogenannten Weltrekord kreisen hier alle Gespräche, um das Durchbrechen der magischen Schallgrenze von 200 Metern. Das ganze Gerede ist unseriös. Sportlich gesehen wären zwar Flüge bis etwa 250 Meter denkbar, wenn die Großschanze in Harrachov in der CSSR im Auslauf erweitert würde. Aber alle anderen Anlagen sind ausgereizt, und es wäre besser, wenn man es dabei belassen würde.

Denkbar darüber hinaus sind dann nur noch ganz neu erstellte Katapulte für Sensationsdarsteller, für Shows, die ausschließlich zum Medienereignis entarten. Das führt dann zwangsläufig zu professionellen Stuntmen, die so unsinnige Vorhaben versuchen, wie einen kilometerbreiten Canyon mit einem Motorrad samt Fallschirm zu überspringen.

»Monumente der Unvernunft« hat der Schweizer Walter Steiner, die wohl größte Ausnahmefigur, die dieser Sport hervorgebracht hat, die immer riesenhafter werdenden Schanzen schon Anfang der siebziger Jahre genannt. Der wortkarge Holzbildhauer, dieser einsame Vogelmensch, plädierte für das Ende des Wachstums ins Saurierhafte. Von unmenschlichen Abgründen sprach er und forderte anders geformte Auslaufskurven, die für einen wie ihn, der alle Begrenzungen überflog, zu potentiellen Todesfallen wurden.

So lange ein Springer auf dem Steilhang des Auslaufs landet, ist die Gefahr nicht groß. Stürze, die schrecklich aussehen, verlaufen meist glimpflich. Steiner hat Kurven gefordert, mathematisch so definiert, wie die Krümmungen an den Schneckengewinden versteinerter Ammoniten. Diese Kurve zieht sich, anders als, ein einfacher Kreisradius, weiter nach vorn in die Ebene hinaus, so daß auch sehr hohe Flugbahnen nicht wirklich gefährlich im fast Flachen enden. Die

Schanze als Kulm gilt unter den Springern als gut, das Profil des Auslaufs liegt dicht an der Flugkurve, und gegen den gefährlichen Seitenwind hat man ein riesiges Netz am Rande des Hanges hinuntergespannt. Der unvermeidliche Pferdefuß dieser und aller großen Anlagen scheint die außerordentliche Länge des Vorbaus zu sein, jener Strecke, die der Springer vom Schanzentisch aus einem hallistischen Geschoß gleich erst einmal überwunden haben muß, ehe er bei etwa 120 Meter den rettenden Steilhang erreicht.

Gnade Gott dem Athleten, der schon auf dem Schanzentisch stürzt und unkontrolliert hinausgeschleudert wird. Das ist dann so, als würde man aus einem fahrenden D-Zug aussteigen.

Solche bizarr anmutenden Stürze hat es auf kleineren Schanzen schon gegeben. Einer der dramatischsten widerfuhr dem Österreicher Willi Pürstl am Bergisel bei Innsbruck, und bis heute ist es noch ein Rätsel, was da eigentlich geschah. Aufzeichnungen des Unfalls lassen vermuten, es habe sich der Springer im letzten Moment in einem instinktiven Reflex der Angst vor dem Abgrund noch mit den Händen abbremsen wollen. Er griff in den Schnee, stürzte seitlich auf den Schanzentisch und quer liegend ins Nichts hinaus.

Dabei hatte er noch unwahrscheinliches Glück, denn es schleuderte den sofort Besinnungslosen den gesamten Auslauf dicht an den Betonstufen der Zuschauertribüne entlang hinunter. Er erlitt außer einer Gehirnerschütterung nur eine Fersenverletzung.

Vier fürchterlich anzusehende Stürze ereignen sich diesmal am Kulm, und nicht ganz zufällig alle am Vorbau. Die Beklemmung des Publikums, das die ersten beiden Verunglückten als bewußtlose menschliche Bündel den Hang herunterwirbeln sieht, beruhigt der Stadionsprecher mit dem Hinweis, sie seien außer Lebensgefahr. Die Verletzungen waren gravierend: offener Unterschenkelbruch, schwere Gehirnerschütterung, zerrissene Kniebänder.

Um den gewaltigen Vorbau zu überwinden, müssen die Anlaufgeschwindigkeiten bis auf etwa 110 Stundenkilometer erhöht werden. Eine heikle Entscheidung für die Verantwortlichen, denn das birgt die Gefahr in sich, daß es für die Besten zu weit geht. In einem einzigen Durchgang liegen der schwächste und der weiteste Flug über 100 Meter auseinander. Zuständig als technischer Delegierter ist der Deutsche Wolfgang Happle, ein erfahrener Mann, der sich gegen Ansprüche aus möglichen Fehlentscheidungen mit zwei Millionen Schweizer Franken versichern ließ.

Und da gibt es noch eine ganze Reihe der unbeachteten Heroen. Der Österreicher Ernst Vettori gehört dazu, einer der heißesten Anwärter auf den Titel. »Seit die Vögel mich fliegen gesehen haben, gehen sie zu Fuß«, hatte er noch vorher getönt. Er hatte dieses Jahr unter anderem schon die Vierschanzentournee gewonnen, und das zählt sportlich sicher höher als die Weltmeisterschaft. Vettori, ein schmaler, sympathischer Junge mit flinken, unruhigen Augen, hat den Mut, seine Verunsicherung zuzugeben. Er scheidet am zweiten Tag aus.

Dann sind da noch die Vorspringer, junge unerschrockene, nachdrängende Kerle, die sich als eine Art Versuchskaninchen zur Verfügung stellen. Bewundernswert die Weitenrichter, denn bei den hohen Landegeschwindigkeiten ist es durchaus möglich, um ein, zwei Meter zu mogeln. Auf ihnen lastet die Erwartung, daß der Weltrekord her muß, egal wie, möglichst von einem Österreicher.

Als just das neue Idol der Nation, Andreas Felder, in einem phantastisch schönen Flug genau bei der ominösen Marke von 191 Metern landet, bleiben die Richter stoisch fest in ihrer Entscheidung, auch dann noch, als der Skispringer Hubert Neuper, ein Vertreter des Organisationskomitees, für den häßlichsten, von kaum jemandem wahrgenommenen Mißton sorgt. In seiner Erregung verlangt er schrill von den Weitenrichtern eine »Nachmessung«, die technisch gar nicht möglich ist, und schreit sie an, ob sie denn jetzt Patrioten seien oder nicht.

Was sind das überhaupt für Menschen, die solche Flüge wagen, was treibt sie? Das große Geld steht nicht dahinter, weil keine Industrie Massenprodukte fertigen kann. Die schwerfälligen, fast unlenkbaren Ski braucht niemand, die Anzüge auch nicht und die vorsintflutlichen Bindungen mit Kabelzügen und Spiralfedern an den Fersen schon erst recht niemand.

Meist sind es stille, ganz junge Einzelgänger, die dem uralten Menschheitstraum nachjagen, beinahe ohne Gerät zu fliegen. Es ist eine von absurder Würde getragene Auflehnung gegen die Gesetze der Natur, gegen die Schwerkraft selbst, und für wenige Sekunden in der Luft erleben die Flieger eine Ekstase, für die es kein vergleichbares Gefühl auf dieser Welt gibt. »Schön und grausig« hat es der neue Weltmeister Felder genannt.

Skifliegen ist nicht eine Disziplin körperlicher Kräfte, es ist ein Zustand von Geisteserregung. Fluggefühl gehört dazu, Mut, das Hinauswachsen über die eigene Todesangst. Wider alle körperlichen Instinkte legen sich die Springer Kopf voraus nach über die Skier in die Abgründe hinein, und ihr ganzes Wesen ist so auf einen Punkt gebracht, daß sie taub sind und, bis auf die Stelle der Landung im Visier, auch blind. Selbst wenn Zigtausende von Zuschauern aufschreien, hören die Springer es nicht.

Am Anlauf in die Spur zu gehen ist etwas Endgültiges, nicht mehr Aufhaltbares, anders als etwa bei Abfahrtsläufern, die sich immer noch abschwingen und anhalten können. Vor der gefürchteten Hausbergkante auf der Streif in Kitzbühel hat es das bei Rennen schon gegeben.

Laut Steiner haben alle Angst; nur darüber zu reden gilt als tabu. Steiner selbst getraute sich nicht einmal, seinen Konkurrenten zuzusehen. Er versteckte sich im Wald und photographierte Zweige von Bäumen.

Ein Japaner zieht, sich selbst zuredend, vor dem Start die Handschuhe an die dreißigmal an und aus. Der Österreicher Franz Neuländtner, ein junger, hagerer Asket, am Kulm zum Vizeweltmeister aufgestiegen, spuckt, mechanisch, abwesend, fast ununterbrochen aus, bevor er sich in die Spur stößt. Angst kenne er keine, sagt der kanadische Indianer Steve Collins, der sich früher mit Alkohol und Drogen betäubt haben soll, bittet aber gleichzeitig um eine Zigarette, an der er sich etwas verschämt festsaugt.

Oben bei der Anlaufspur, wenn man genauer hinsieht, ist kein einziger strotzender Kraftmensch zu sehen. In dem Starthäuschen, wo sie sich aufwärmen, hält es auffallend viele nicht auf dem Boden. Wie gefiederte Wesen das gerne tun, stehen und hocken viele von ihnen aneinandergereiht auf den grob gezimmerten Bänken und Tischen. Hier überwiegen die schmalen, kindhaft todblassen, die Pickelgesichtler.

Jens Weißflog aus der DDR, einer der ganz Großen im Fliegen, wirkt so klein und zerbrechlich, daß man erst meint, man habe einen erschrockenen Buben vor sich, der im Gedränge die Mama verloren hat. Der noch nicht 17jährige Didier Mollard, ein Franzose, in dem das Zeug zu einem künftigen Weltmeister steckt, sieht aus wie ein schöner, überzeichneter Erzengel Gabriel, direkt der italienischen Renaissance entstiegen. Eine Reihe anderer, wie etwa der Finne Tuomo Ylipulli, die in der Luft alles menschliche abzulegen scheinen, wirken wie Pubertierende, die ausschließlich mit Milchreis großgezogen wurden.

Das größte Rätsel, wie oft schon zuvor, ist der Jugoslawe Primoz Ulaga, ein begnadeter Springer, seit Jahren schon so etwas wie der heimliche, verwehte Weltmeister. Er hat die Wachheit und die beunruhigende Trauer, die von allen großen Vögeln ausgeht, und er kann - manchmal - fliegen wie ein Vogel. Irgendwie ist er das verlotterte Genie der Skifliegerszene.

Er ist so verunsicherbar, daß er wie letztes Jahr auf der Schattenberg-Schanze unter 102 Bewerbern letzter wurde. Diese Saison trat der hochsensible dort erst gar nicht an, obwohl er bereits im Weltcup führte. Nur wenn die Verhältnisse absolut stabil sind, also kein Wind geht, die Schanze gut präpariert ist, wenn sich niemand von ihm etwas erwartet, also kaum Vorapplaus bei der Nennung seines Namens aufkeimt, dann wächst er über sich hinaus und kann jeden besiegen.

Am Kulm regnet es anfangs, garstige Windböen machen die Sache unsicher, und im Wettkampf stürzt der Starter genau vor ihm schwer. Ulaga, erst an 11., dann an 15. Stelle liegend, tritt gar nicht mehr an.

Als alles vorbei ist, als sich das anschließende Verkehrsknäuel noch nicht entwirrt hat, als die großen, trostlosen Wasserpfützen im Zuschauerbezirk, mit Bierdosen und Papptellern übersät, das Bild eines verlassenen Schlachtfelds bietet, sieht man den jungen Ladislav Dluhos aus der CSSR sich den Weg durch die letzten betrunkenen Schlachtenbummler bahnen, die im Schnee taumelnd ihre Busse suchen. Er, der Vierter hinter Nykänen geworden ist, blickt auffällig lang noch einmal den gigantischen Hang hoch, schön und traurig und ernst, wie ein Ministrant, der einer geweihten Handlung beigewohnt hat.

Der letzte, der geht, ist ein scheuer Pole. Er faßt in den Schnee, blickt zur Schanze hinauf, bekreuzigt sich und geht mit ganz behutsamen Schritten quer über den Auslauf zu seinem Mannschaftswagen.

So, als wolle er die Schanze, dieses schlafende Ungeheuer, nicht wecken.

Werner Herzog
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