Hockey-Nationalspielerin Janne Müller-Wieland spielt seit Mitte Juni in der japanischen Liga. In ihrer aktuellen Heimat fühlt sich die 27-Jährige wohl und kann bereits eine Menge Anekdoten erzählen.

Hamburg . Auf einmal stand da diese Kiste Tomaten. Janne Müller-Wieland hat schon einige Titel gewonnen in ihrer Karriere als Hockeyspielerin, die sie zweimal bis zu den Olympischen Spielen geführt hat. Dafür gab es Pokale, manchmal auch Sachprämien. Aber Tomaten? Das war eher ungewohnt. Aber schließlich spielt sie seit Mitte Juni in Japan Hockey, „in einer anderen Welt“. Und da es dort gute Sitte ist, Menschen, die Besonderes leisten, mit Dingen zu beschenken, die für die Herkunftsregion typisch sind, gab es für den Sieg in Wakayama eben die berühmten Wakayama-Tomaten für das gesamte Team. „Ich finde das irgendwie charmant“, sagt Janne Müller-Wieland.

Sie kann eine Menge solcher Anekdoten erzählen, und das Wichtigste, das man heraushört, ist: Dass sie sich pudelwohl fühlt in ihrer aktuellen Heimat, und dass sie erreicht hat, was sie erreichen wollte – eine Erfahrung zu machen, die sie in dieser Form nie wieder machen wird. Deshalb hatte sich die 27- Jährige, die in der Bundesliga für den Uhlenhorster HC spielt und dort weiter gemeldet ist, Anfang des Jahres dafür entschieden, den Schritt nach Fernost zu gehen. „Ich wollte gern mal im Ausland spielen, aber nicht in einer Liga wie der niederländischen, die der Bundesliga so ähnlich ist“, sagt sie. Und Asien hatte sie immer schon gereizt.

Auf einem Lehrgang mit dem deutschen Nationalteam im Februar in Malaysia lernte sie einen japanischen Trainer kennen und fragte ihn, ob es in seiner Heimat einen Ligenbetrieb gebe. Gebe es, antwortete er, und er könne da auch ein Team empfehlen, das er praktischerweise selbst trainiere. Ende Mai war klar, dass Janne Müller-Wieland in der zweiten Jahreshälfte 2014 für die Coca-Cola West Red Sparks auflaufen würde. Die Mannschaft ist in Hiroshima beheimatet, der Millionenstadt im Südwesten der japanischen Hauptinsel Honshu, die vor allem durch den Atombombenangriff der USA am 6. August 1945 traurige Bekanntheit erlangte.

In Hiroshima wohnt Müller-Wieland mit ihren Mitspielerinnen in einem Haus

Janne, die im Team einzige Europäerin und mit Ausnahme einer Koreanerin auch einzige Ausländerin ist, lebt im Zentrum der Stadt in einem siebenstöckigen Haus, in dem alle 18 Spielerinnen ein Apartment bewohnen. Eine Köchin sorgt für Frühstück und Abendessen, das alle gemeinsam im Speisesaal einnehmen. Morgens gibt es Obst, Cerealien, Eierspeisen. Abends wird in Menüform Fisch, Fleisch und viel Gemüse serviert, angerichtet für jede einzelne Spielerin auf einem Portionsteller, so ordentlich und sauber, wie in Japan auch die Städte aussähen. Und immer gibt es Reis, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Reisbällchen to go, als Snack auf die Hand, gefüllt mit allerlei Köstlichkeiten, das ist für die Hamburgerin ein lieb gewonnener Ernährungsbaustein geworden. „Es ist ein bisschen wie ein Überraschungsei, weil ich ja nicht lesen kann, womit der Reis gefüllt ist“, sagt sie. Rund 5000 Zeichen in drei verschiedenen Schriftsystemen – unmöglich für einen Ausländer, sich innerhalb weniger Monate darauf einzulassen.

Die Red Sparks sind eins von vier Firmenteams in der Liga. Dazu kommen vier Vereinsmannschaften. Die Spielerinnen der Red Sparks, auch Janne Müller-Wieland, sind Angestellte von Coca-Cola. Alle Einheimischen arbeiten vormittags im Unternehmen, in der Zeit nimmt „Yanu-San“, wie die Deutsche genannt wird, Sprachunterricht. Das meiste lernt sie im Umgang mit den Teamkolleginnen, deren Englisch so rudimentär ist, dass Janne nicht glauben wollte, dass sie es sechs Jahre lang in der Schule gelernt hatten.

Mittlerweile kann sie sich in japanischer Sprache verständlich machen und versteht selbst einiges. Wenn der Trainer seine Ansprachen hält, sitzt sie allerdings neben der Mitspielerin, die am besten übersetzen kann. Oder der Trainer selbst übersetzt, auch er spricht verständliches Englisch.

Vor allem spricht er freundlich mit ihr. Das ist der Unterschied zum Umgang mit dem Rest des Teams. „Alle haben Angst vor ihm und würden sich niemals trauen, etwas Kritisches zu sagen.“ Das sei die größte Differenz zwischen dem japanischen und dem deutschen System: Dass der Trainer unantastbar sei und die Athleten zu folgen hätten, auch wenn sie überzeugt davon seien, dass die Maßnahme ihnen oder dem Team schade. Trainiert wird mehrere Stunden täglich, auch am freien Sonntag lassen sich viele die 45 Minuten mit dem Bus zum Sportkomplex fahren, der außerhalb der Stadt in den Bergen liegt. „Wenn ich die Japanerinnen frage, ob sie nicht kaputt sind, sagen die: ‚Natürlich, wir sind total fertig!’ Aber es gibt kein Gespräch mit dem Trainer. Stattdessen werden sie übertrainiert.“

Ihre vom Trainer gebilligte Aufgabe ist es deshalb, eine gewisse Lockerheit einzubringen, das kreative Element zu liefern, das vielen japanischen Spielerinnen abgehe, weil sie gemäß ihrer Kultur in Hierarchien gefangen scheinen. „Technisch und taktisch können die alles, aber es fehlt ihnen Eigenständigkeit. Anfangs wurde hier, wenn jemand ein Tor schoss, nicht gejubelt. Alle waren verbissen auf ihre Aufgabe konzentriert. Ich habe dann eingefordert, dass wir uns abklatschen, und ich merke, dass meine Mitspielerinnen es gut finden“, sagt sie.

Im Gegenzug lernt die studierte Betriebswirtin viel über respektvollen Umgang miteinander und mit der Umwelt. Auf der Straße liegender Müll wird umgehend aufgehoben. Einmal traf sich das gesamte Team im Stadion, um das Spielfeld von Unrat zu reinigen – das in den Augen der Deutschen vollkommen sauber war. Und die Geste, Menschen, die einem etwas bedeuten, ein persönliches Geschenk zu machen, das gar nicht viel kosten, aber von Herzen kommen muss, hat sie längst angenommen. „Einmal hat mir eine Teamkollegin ein Shampoo geschenkt, weil ihre Mutter Friseurin ist und mir etwas Gutes tun wollte, einfach so“, sagt sie. Als sie selbst jedoch einer Mitspielerin ein Brot als Dank für Hilfestellungen im Alltag schenkte, wollte die das kaum annehmen. „Was man schenkt, bekommt man doppelt zurück. Manchmal ist mir das ein wenig unangenehm.“

Janne Müller-Wieland hat sich daran gewöhnt, dass die Japanerinnen ihre Körpermaße – 1,75 Meter groß, Schuhgröße 42 und mindestens zehn Kilogramm schwerer als alle Mitspielerinnen – ebenso beeindruckend finden wie ihre Gesichtskonturen, für die in Japan viel Geld an Schönheitschirurgen gezahlt werden müsse. Sie hat sich auch an die beheizbaren Klobrillen gewöhnt und daran, dass man vor jedem Haus die Schuhe auszieht, dafür aber in Hotels vor jeder Toilette kleine Schläppchen stehen, um den Toilettengang hygienischer zu machen. Kurz: Sie fühlt sich so wohl, dass sie sich vorstellen könnte, auch länger zu bleiben als bis zum Jahresende, wenn ihr Vertrag mit Coca-Cola ausläuft.

Aber da nächstes Jahr die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2016 beginnt und die Defensivspielerin unbedingt in Rio de Janeiro dabei sein möchte, wird sie zurückkehren zum UHC, bei dem sie auch dank der Förderung durch das Team Hamburg beste Vorbereitungsmöglichkeiten hat. Vorher aber will sie mit den Red Sparks weitere Titel gewinnen, am nächsten Wochenende zum Beispiel das Finale der Japan League. Egal, ob es dort Tomaten gibt oder sonst irgendetwas – Janne Müller-Wieland wird es genießen, ohne sich zu wundern.